Zittert über den Angriff der großen Killerpflaume! Schreckt Euch vor dem gebrauchen Teebeutel! Der explodierende Hirntumor ist nichts für schwache Gemüter! Doch Linderung naht: Dumbledore steht uns bei!
Erster Teil von Molos Empfehlungen von Neil Gaimans
inkl. »Hilfreicher Handreiche« über mythologische, historische und literarische Anspielungen.
Eintrag No. 389 — Schön langsam mutiert die Molochronik zu einem Neil Gaiman-Fanblog. Was soll ich auch machen? Gaiman ist nun mal einer der originellsten und fruchtbarsten Gegenwartsvertreter der Genre-Phantastik, und da durch so manches Ungeschick seine Werke bei uns bisher zumeist in nicht so dollen Ausgaben erschienen, werf ich mich gern ins Zeug um diesen ›modernen Multimedia-Ovid‹ lobzupreisen. Ich schätze Gaiman deshalb so hoch, weil er es (nicht immer aber eben immer wieder) schafft, einem Literatur-Ideal gerecht zu werden, daß mir durch solche respektablen Klassiker wie den Römer Horaz oder den Barock-Gelehrten Gracian schmackhaft nahegebracht wurde. Kein Zweifel: Literatur, Fiktionen, Fabulation sollten zu mehr nützen, als dem Publikum eine Wohlfühlmassage zu verschaffen. Leser von Romanen (egal ob in Prosa oder in graphischer Form) sollten auch zum Nachdenken angeregt werden. Doch zweiteres will nun mal besser schmecken, wenn die Belehrung nicht so dröge, steif und nur bildungshuberisch daherkommt. Zuerst einmal muß unterhalten werden, muß die Hemmung durch den Zweifel überwunden werden. Derart beschwingt ist es dann auch locker-flockiger möglich, den Lesern ernste Gedanken nachzubringen, auf die sie sich ansonsten nicht einzulassen die Lust gehabt hätten.
In den frühen 90gern lauschte ich auf einer Fantasy-Con Freunden beim Fachsimpeln über die »Sandman«-Comics. Es ging um die ›Endless‹, die Endlosen, jene 7-köpfige, dysfunktionale Familie anthropomorpher Personifizierungen, deren Namen auf englisch alle mit D beginnen (der ernste Destiny/Schicksal, die lockere Death/Tod, der vergrübelte Dream/Traum, der lebenslustige Destruktion/Zerstörung, die intrigante Desire/Verlangen, die selbstquälerische Despair/Verzweiflung und die jüngste im Bunde Delirium, die einst Delight/Entzücken war). — Als jemand, der schnell mal hingerissen ist, wenn philosophische Menschen- und Weltenlauf-Bespiegelung mit Äktschn, Spannung und Soap vermengt werden, spitzte ich die Ohren. Hmm, neue, neutrale ›Götter‹, eine moderner Pantheon für eine globalisierte Welt, dachte ich mir neugierig.
Worauf läßt man sich ein? Auf einen großen, zehnbändigen Epos über die Krise von Dream/Morpheus, seinen Niedergang und seine Wiederauferstehung; auf eine kecke Mischung aus Altem und Neuen, wobei Mythologien und Klassiker von frühester Zeit an und aus allen möglichen Weltgegenden Hand in Hand mit Neo-Mythen der westlichen Pop-Moderne einen abwechslungsreichen Reigen tanzen.
Der erste Band »Prädludien & Notturni« versammelt den aus acht Kapiteln/Heften bestehenden eröffnenden Handlungsbogen, dessen Arbeitstitel auf englisch »More than Rubies« (Mehr als Rubine) lautet.
Ein nach dem Vorbild des Scharlatan-Okkultisten Aleister Crowley gestalteter englischer Gurumotz hegt die alte Menscheitsambition den Tod zu überwinden zu wollen. Dazu zieht dieser Roderick Burgess Anfang des 20. Jhd. ein Beschwörungsritual mit seiner Kultgang durch, verhaut sich aber grob. Statt Death/Tod zu bannen, fängt Burgess deren ›kleinen‹ Bruder Dream/Traum in seinem Zauberkreis, wo der bleiche König der Traumlande über siebzig Jahre darbt. Durch Dreams Abwesenheit verfiel sein Reich, viele Traumlandbewohner haben sich auf und davon gemacht und treiben ihr Unwesen in unserer Welt.
<img src="molochronik.antville.org" title="»Sandman«, Heft 1, Seite 1, alte Kolorierung. Copyright by Vertigo/DC."align="right" style="margin-left: 10px; margin-bottom: 10px;">Erster und Zweiter Weltkrieg vertreichen, wie auch die Nachkriegsepoche, bis es Dream schließlich Ende der 80-ger gelingt seinen Kerkermeistern zu entkommen und in seine Heimatgefilde zurückzukehren. Soweit das erste Kapitel.
Der Rest von »Präludien & Notturni« erzählt dann ausführlich und abwechslungsreich, wie der geschwächte Morpheus Stück für Stück seine machtvollen Artefakte wiedererlangt und sein Reich halbwegs restauriert. Zu den Höhepunkten des ersten Sammelbandes gehört ein Ausflug von Morpheus in die Hölle, wo er sich mit einem gemeinen Dämon ein ›Duell der Realität‹ liefert; ein verstörendes Kapitel über Größenwahn und Maßlosigkeit, wenn ein Straßenrestaurant zum Hort tödlichen Gruppen-Irrsins wird; und natürlich das abschließende achte Kapitel des ersten Bandes, wenn dem selbstmitleidigen Morpheus von seiner überaus symphatischen Grufischwester Death der Kopf gerade gerückt wird.
Meine ersten »Sandman«-Einzelhefte las ich noch leihweise, bevor ich im September 1992 mit Heft 41 selbst anfing zu sammeln. Im Lauf der Zeit besorgte ich mir die zehn englischen Sammelbände von Vertigo/DC. Mit großer Verstörung beobachtete ich vor Jahren, wie diese Sammelbände in schrecklicher Art und Weise das erste Mal auf Deutsch herausgebracht wurden. In zu großem (europäischem) Albumformat auf viel zu schwerem Papier, und (was am rügenswertensten ist) oftmals wurden die Original-Sammelbände für die deutsche Ausgabe einst zweigeteilt veröffentlicht. Zudem wurde diese erste deutsche Ausgabe nie abgeschlossen. Sicherlich hat das für enorm viel Frust bei der Comicliteratur-Leserschaft gesorgt (und wieviele Jungleser durch diese ›Schlampausgaben‹ dazu getrieben wurden, gleich auf Englisch zu lesen, wage ich gar nicht zu spekulieren).
Nun — endlich! — mit großer Verspätung, dafür aber auch mit erfeulicher Sorgfalt gestaltet erscheinen seit Anfang dieses Jahres die Sammelbände bei Panini/Vertigo erneut. Panini hat Sandman neu übersetzten lassen lassen und folgt dabei der neusten Sammelauflage der Amerikaner, tischt uns damit also die neue digitale Kolorierung auf. Die alte Kolorierung ist freilich nicht gänzlich zu verachten; vor allem Freunde der klassischer Gruselrießer-Comics dürften daran Gefallen finden. Immerhin: die 75 Hefte der »Sandman«-Reihe, die von 1989 bis 1996 (fast immer) monatlich erschienen, dokumentieren nebenbei auch die Geschichte der Umstellung zum digitalen Einfärben der s/w-Linienzeichnung. Der Vergleich von Seite 1 in alter und neuer Kolorierung zeigt, wie Dank digitaler Bildbearbeitung feinere Farbnuancen & -verläufe möglich sind. Die Seiten sind zugleich dezenter eingefärbt, und wirken dennoch plastischer. Dadurch geht zwar der horror-trashige Charakter der ursprünglichen Koloierung verlohren, aber alles in allem finde ich die neue Farbgestaltung angenehmer, stimmungsvoller, kurz: schöner.
Zu den bezaubernsten Markenzeichen von Gaiman gehört, wie es ihm gelingt, kleine Geschichten in der großen Geschichte unterzubringen; wie er vor allem mit »Sandman« eine Geschichtenerzähl-Maschinerie anwirft, die im Besten Sinne an die berühmte Wendung aus Michael Endes »Die Unendliche Geschichte«
Aber dies ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden
oder auch an die labyrinthische Weberei von Schahrasads Erzählungen in »Tausendundeiner Nacht« erinnert.
Wie bei jeglicher ehrwürdiger Phantastik bietet »Sandman« seinen Lesern ein facettenreiches philosophisches Panoptikum an. Philosophisch im hehresten Sinne, eignet sich dieses Epos über Niedergang und Wiederaufstieg, über Sehnsucht und Zorn doch vorzüglich dazu, den Leser unaufdringlich die Kunst des Sterbens zu lehren, ohne Verzweiflung damit fertig zu werden, daß unser aller Leben auf ein unausweichliches Ende zustrebt, es also nur in unserer eigenen Verantwortung liegt, welche Welten wir für uns und unsere Mitmenschen bauen.
»Sandman« ist ein ehrenwerter Fundus abstrakter Poesie, düster, betörend, verwirrend und in seiner Form definitiv einzigartig.
Leider stößt Björn aber auch wieder in das Horn, welches tutet, daß Gaiman verschreckend und verstörend ›brutal‹ ist. Liebe Leut: »Sandman« ist gedacht für ›mature readers‹. Trotz aller Auch-Eignung für aufgeweckte Teens, ist »Sandman« eben kein Kinderfantasykram, sondern beste Phantastik für reife Leser.
Einerseits kann man sich einfach nur von einer spannenden und ungewöhnlichen Geschichte unterhalten lassen - andererseits ist es auch möglich in die hintergründigen Szenarien einzutauchen, die in Text und Bildern erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Das macht die Serie zu Recht zu einem der Klassiker der Comic-Geschichte.
(Eintrag No. 388; Seltsamer Anruf) — Leichte Panik meinerseits. Grad eben, um 15:17 Uhr, rief mich ein Herr Görmann an (Vorname hab ich nicht gleich aufgeschrieben, war aber glaub ich Sven). Der klang sachlich, etwas knappwortig und angenehme Nachrichtensprecherstimme. Herr Görmann meinte, er will den Computer, den er über eBay von mir gekauft hat, wieder zurückgeben.
Ich bin verdutzt und kläre ihn auf, daß ich nie einen Computer über eBay verkauft habe. Vor einigen Jahren wurde ich schon mal Opfer eines Identidätsklaus und bitte Herrn Görmann, diese Sache mit mir zusammen bei eBay zu klären. Herr Görmann bleibt dabei, daß ich den Computer zurücknehmen soll. Ich sag ihm nochmal, daß ich keine eBay-Geschäfte mache und wir die Sache mit eBay klären sollen. Herr Görmann meint, ich solle zu dem Verkauf stehen. Ich frage ihn, woher er überhaupt meine Telefonnummer (Festnetz) hat, bzw. wie er denn des Computers habhaft wurde, denn ich habe nie einen Computer verschickt, nie angeboten, nie verkauft.
Und dann brach die Leitung ab. Mein Telefon zeigt zwar die Anrufzeit von Herr Görmann an, aber keine Nummer, keinen Namen.
Ich hoffe, daß wenn der Herr Görmann echt ist und ein Problem hat, er den Nepp, dem er wohl zum Opfer fiel, klären kann.
EDIT-Nachtrag: Ha, alles okey. Die lästige Firma Marcophono.de bietet lustigen Telefonspaß an. Sowas ist erlaubt! Professionelle, technische Unterstützung zum Verwirren von Leuten! Frechheit das. Mögen die heulende Höllenhunde dem Strolch der mir diesen Streich spielte die Nasenhaare bis in die Stirnhölen wachsen lassen!!!
Eintrag No. 387 — Zur Einstimmung: Was ist eigentlich so besonders (im Guten wie im Schlechten) an der Phantastik-Sparte Science Fiction? Handelt es sich dabei nicht schlicht um eines jener Genres, in denen man noch in aller naiven Ruhe Cowboy und Indianer spielen darf, nur halt mit fesch ausgerüsteten Space Rangern und schleimig-befremdlichen Außerirdischen? Auch, ja, schon, aber zieht Euch mal folgenden Abschnitt aus »Girlfriend in a Coma« (1998) Douglas Coupland rein. Da wird knapp und virulent zur Sprache gebracht, welche roten Fäden das Grundgewebe der SF bilden. (S. 269 der TB-Ausgabe von Flamingo; Übersetzung von Molo):
Ask whatever challenges dead and thoughtless beliefs. Ask: When did we become human being and stop being whatever is was we were before this? Ask: What was the specific change that made us human? Ask: Why do people not particularily care about their ancestors more than three generations back? Ask: Why are we unable to think of any real futury beyond, say, a hundered years from now? Ask: How can we begin to think of the future as something enormous before us that also includes us? Ask: Having become human, what is it that we are now doing or creating that will transform us into whatever it is that we are slated to next become? {…} What is destiny? Is there a difference between personal destiny and collective destiny? {…} Is Destiny artificial? Is it unique to Man? Where did Destiny come from? Was immer toten und gedankenlosen Glauben herausfordert, das frage. Frage: Wann wurden wir zu menschlichen Wesen und hörten aus zu sein, was immer wir zuvor waren? Frage: Welcher Wandel war es genau, der uns zu Menschen machte? Frage: Warum haben Menschen keine besondere Verbundenheit mit ihren Vorfahren, die weiter als drei Generation zurückreichen? Frage: Warum sind wir unfähig uns irgendeine echte Zukunft jenseits von, sagen wir, einhundert Jahren vorzustellen? Frage: Wie können wir damit anfangen, uns die Zukunft als etwas riesiges das vor uns liegt und das uns beinhaltet vorzustellen? Frage: Was von dem das wir, nachdem wir zu Menschen geworden sind, nun tun oder erschaffen, wird uns umwandeln, was immer vorgesehen ist, in das, was wir als nächstes werden? {…} Was ist Schicksal? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Schicksal eines Einzelnen und dem Schicksal einer Gruppe? {…} Ist Schicksal etwas künstliches? Ist es etwas nur dem Menschen eigenes? Woher kommt Schicksal?
Weil die erzählten Vorstellungen von der Zukunft immer auch ein Jounglierspiel mit Aufputsch- und Beruhigungsreizen zwischen Hoffnungs-Versprechen und ›Teufel an die Wand‹-Malerei sind, gehört SF (und Phantastik allgemein) zur fordersten Front im Infowar um die Imagination der Massen. Kolonisierungsgerangel um die Konsumenten-Hirne nennt sich das dann.
Da ist es für mich eine außergewöhnliche Freude die Sachbuchneuerscheinung eines SF-Forum-Kumpels vorzustellen, bei der ich mit Lob kaum übertreiben kann. »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des SF-Films« von Simon Spiegel ist nicht das x-te Durchhechel-Lexikon, sondern bietet einen im besten Sinne abwägenden und klärenden Rundgang durch Geschiche und Eigenheiten des SF-Films, und liefert dabei ganz nebenbei so manch erhellende Einsicht zu Genre- und Verfahrens-Problemen der phantastischen Disziplinen.
Spiegel spricht dabei offen von der Herausforderung sich als ›Film-Fan‹ film- und medienwissenschaftlich objektiv mit seinem geliebten Genre auseinanderzusetzten. Doch er hat diese Schwierigkeit gemeistert, denn es bleibt immer kenntlich, wo Spiegel mit geisteswissenschaftlicher Distanz über den Gegenstand referiert, und wo er sparsam (sozusagen zur Auflockerung) seinen persönlichen Geschmack offenbart. Erfrischend persönlich, und einnehmend sympathisch sind schon Widmung und Motto: In der Widmung kommt die Tragik vieler männlicher SF-Begeisterten zur Sprache, daß SF Frauen überwiegend kalt läßt. Und statt einem klugen oder coolen Spruch, gibts einen (Tusch!) Gary Larson-Witz als Motto. Perfekt.
Das Buch ist zweigeteilt: die ersten 120 Seiten bieten eine (Schnell-)Übersicht der SF-Forschungsgeschichte, auf die Umzirkelungen der Definitionsbemühungen, und der (auch literatur-)geschichtlichen Entwicklung sowie der philosophisch-gesellschaftlichen Aspekte des SF-Genres folgen.
Für mich als Vertreter einer maximalphantastischen Genre-Sicht ist die Dilemmaschwemme des ersten Teils so vergnüglich zu lesen wie ein Intrigantenstadel, sozusagen beste Diskurs-Seifenoper, vor allem, weil ich Simon Spiegel die meiste Zeit schmunzelnd zustimmen kann. So ist die SF ein dauerhaft populäres Genre, wird zugleich aber von den vermeindlichen Kulturfuzzis (wenn überhaupt) überwiegend scheel beäugt. Macher und Leser der SF stehen in innigeren Austausch, als das in ›relevanteren‹ und ›wertvolleren‹ Fiktionsgefilden üblich ist. Nicht selten waren SF-Macher erstmal selbst Fans, und da die etablierten Akademiker nur langsam in die Puschen kamen, haben vor allem zu Beginn der SF-Kernepoche (das sogenannte ›Golden Age‹, etwa Ende der Dreissigerjahre bis zu den Fünfzigern des letzten Jhd.) die Fans selbst die Forschung erledigt. Spiegel erteilt dabei den oftmals peinlichen Adelungsabsichten von SF-Liebhabern, aber auch den auf idologiekritischen Vernageltheiten fußenden Schlechtreden von SF eine klare Absage. Vielmehr geht es dem Autor darum, genauer darauf zu achten, wie SF-Filme als Prozesse funktionieren, und welche Konstruktionsleistungen das Publikum anstellen muß, um SF-Filme verstehen und genießen zu können.
BOCKSPRUNG ÜBER TODOROV HINWEG
In seiner Übersicht zu den Definitionsanstengungen begeistert mich Simon Spiegel mit seiner Art, wie er die im deutschprachigen unseelig einflußreiche Arbeit »Einführung in die fantastische Literatur« von Tzvetan Todorov als Leiter nutzt, die man getrost vergessen kann, sobald mit mit ihrer Hilfe fruchtbarere Aussichtsplattformen auf Phantastikgenre erklommen hat. Warum hack ich so polemisch auf Todorov rum? Na weil sein Genre-Ansatz ein systematischer ist (es gibt auch normative, narratologische, historische, wirtschaftliche und rezeptionsorientierte), mit dem Genres anhand (S. 24) …
»›objektiver‹«, textueller, formal-semnatischer Merkmale bestimmt und voneinander abgegrenzt {werden}.
Todorov ist überhaupt nicht daran gelegen zu untersuchen, wie Phantastik in freier Wildbahn daherkommt, sondern es geht ihm um einen Idealtypus, nämlich: wenn der Leser bei einem Werk nicht klar entscheiden kann, wie die Wirklichkeitsverfassung geartet ist. Je nachdem, wie ein unerklärliches, übernatürliches Ereignis in einer ›realistischen‹ Fiktion aufgelöst wird (realitätskonform oder nicht), unterscheidet Todorov dann zwischen:
Reiner Phantastik: Übernatürliches wird weder als Lug und Trug rational aufgelößt, noch als wirklich Übernatürlich bestätigt. Der Leser bleibt am Ende zweifelnd zurück (z.B.: »Total Recall«);
Phantastisch-Wunderbarem: Übernatürliche Dinge werden am Ende als genau das, Übernatürlich, erklärt. (z.B.: »The Sixth Sense«);
Phantastisch-Unheimlichen: Was zuerst wie eine übernatürliche Unmöglichkeit scheint, wird rational erklärt (mein Beispiel: »Pakt der Wölfe«);
Unvermischt Wunderbares: Der Weltenbau ist unverhohlen von übernatürlichen Dingen geprägt (mein Beispiel: »Harry Potter«);
Unvermischt Unheimliches: Viele als realistisch verortete Krimis bieten Spannung, indem eine Tat präsentiert wird, die sich augenscheinlich nur mittels ›Magie‹ vollbringen ließ. Exemplarisch z.B. das Motiv des Ermoderten im von innen verschlossenen Zimmer, bekannt durch Kriminalerzählungen von z.B. Agatha Christie und Arthur Conan Doyle.
Diese systematische Einteilerei steht und fällt mit dem Gegensatz zwischen ›realistisch‹(im Sinne von wirklichkeitskonform, was der Fall ist) und ›unrealistisch‹(im Sinne von Hirngespinst und was nicht der Fall sein kann, z.B. eierlegende Wollmilchschweine). Und was Autoren und Leser, sprich: Menschen überhaupt für realistisch und unrealistisch nehmen, hängt nun mal sehr von der jeweiligen Sicht auf Welt und Leben ab. Zudem ist Todorov herzlich Wurscht, ob die in einer Geschichte gegebene (oder nicht gegebene) Aufklärung lediglich eine formale Konvention ist oder nicht (Ätsch, war alles nur geträumt). Als Begriffssteigeisen für die ersten Dutzend Höhenmeter taugen Todorovs fünf Begriffe durchaus, alle anderen Wörter seine »Einführung…« kann man jedoch getrost dem Vergessen anheim fallen lassen.
Spiegel kommt zur nützlichen Einsicht, daß Phantastik weniger ein fixes Genre ist, daß sich mittels inhaltlicher Merkmale bestimmen läßt, sondern vielmehr ein Modus, eine Art und Weise der Vermittlung von Fiktionen ist, und Spiegels Versuch einer Definition trägt dem mit gebotener Umsicht Rechnung, wenn er schreibt (S. 41):
Der phantastische Modus definiert sich duch die Dominanz eines phantastischen Elements. Ein phantastisches Element liegt dann vor, wenn ein unaufgelöstes, durch einen Realitätskompatibilitäts-Klassifikator als solches markiertes, nicht-realitätskompatibles Ereignis oder Phänomen in einem klassisch erzählten Film oder Text auftritt, der sonst keinen Hinweis auf eine ›nicht-wörtliche‹ oder ›poetische‹ Leseweise gibt.
Dabei sind die Übergänge und Heftigkeiten fließend und es ist durchaus keine endgültig objetive Sache, ob man als Leser ein Werk eher dem Gebiet der reinen Phantastik, des Unheimlichen oder des Wunderbaren zuordnet. Wer z.B. als überzeugter Gläubiger von der Existenz von Engeln, Dämonen und Magie überzeugt ist, wird andere Grenzen zwischen Phantastik, Unheimlichem und Wunderbarem ziehen, als ein skeptischer Naturalist.
GESCHICHTLICHES & PHILOSOPHISCHES
Im historischen Teil bietet Spiegel die sinnvolle Betrachtungsschwerpunkt-Unterscheidung zwischen der Entwicklung einzelner SF-typischer Motive, der Entstehung SF-typischer Vermittlungsmethoden und dem Auftreten der SF als eigenständiger Marktsparte an. Typische SF-Motive finden sich ja zuhauf schon in Werken, die lange vor dem Aufkommen des Begriffs SF entstanden sind. Als Mutter der modernen Phanatstik wird deshalb auch korrekterweise die Gothic Novel genannt (nur in etwa dem deutschen Begriff Schauerroman entsprechend). Ausgangspunkt sind Reaktionen von Autoren des späten 18./frühen 19. Jhd auf die Umwälzungen der im Aufstieg befindlichen Moderne, der erblühenden Wissenschaften und der Industriellen Revolution. Die Widersprüche zwischen alten und neuen Wegen der Weltbildgewinnung bilden das Spannungsfeld, auf dem bis heute die SF wie auf einem Trampolin seine Fabulationssprünge leistet. Spiegel führt das anhand von Horace Walpoles Ambition seinen Roman »Das Schloss Otranto« (1764) betreffend vor. Bis heute aber ragt Mary Shellys Roman »Frankenstein – Der moderne Promeutheus« (1818) aus dem Feld der Gothic Novels hervor, denn hier wird eindrücklich Heil und Unheil der menschlichen Ambition behandelt, sich als Schöpfer und Macher von naturgegebenen Grenzen zu befreien, und typisch SF ist bei diesem Roman eben, daß ausdrücklich Medizin und Wissenschaft (siehe frühe Forschung zur Elektrizität) als Glaubwürdigkeitsstützen für die Schilderung widernatürlicher Machenschaften und unnatürlicherVorfälle herangezogen werden.
Als zwei weitere bis heute prägende SF-Strömungen läßt Spiegel dann den französischen Kintop-Pionier Gerge Méliès, und den amerkanischen Verleger Hugo Gernsback auftreten. Bei Méliès ist klar zu sehen, wie wunderbare Effekte erstmal für sich stehen, nur lose zu Handlungen verknüpft werden und seine Filme mehr mit marktschreierischem Tingeltangel-Spektakel als z.B. mit erzählendem Theater gemein habe. Gernsback ist ein Paradebeispiel für die Ambition, vergnüglich-unterhaltene ›romances‹ mit wissenschaftlichen Fakten und prophetischen Visionen (sic!) zu vermengen (Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!!! Soviel steht auch fest: Bescheidenheit ist selten der SF größte Zier … To infinity and beyond!).
Im philosphischen Teil zeigt Spiegel dann, daß moderne Phantastik sozusagen eine Verweltlichung religiöser Sprech- und Weltdeutungspraktiken ist. Die Rede von der Zukunft war bis zum Aufbruch der Moderne religiösen Darstellungen vorbehalten und unterlag heilgeschichtlichen Imperativen. SF (und andere Genre-Phantastik) kommt dagegen als Kunst-Mythos von allen für alle daher, genauer: als Neu-Aufbereitung und Wiederverwurschtung von althergebrachten Mythen, oder wie Spiegel knapp ausdeutet (S. 103):
In der oft beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit der SF steckt nämlich auch der ganz und gar irrationale Wunsch nach Erlösung durch den technischen Fortschritt: Die Geschichte dieses Fortschritts ist für die SF gernbackscher Prägung eine Heilsgeschichte.
Das Spektrum des Geschichtenerzählens über die Zukunft und den technischen Fortschritt kennt nun freilich mittlerweile nicht nur die diese Propaganda- und Verführungsfabulas der Gewinnerauch sie immer noch prägender sind (und sich besser verkaufen lassen) als pessimistische und kritische SF-Weltenbauten (was natürlich darauf ankommt, was ich hier genau mit ›pessimistisch‹ und was mit ›Verführungsfabulas der Gewinner‹ meine. Dazu nur soviel: die Bugs sind auch nur Menschen! Don’t join the Spacecore.)
Klärend arbeitet Spiegel heraus, daß SF ein Modus ist, in dem Zukunfts-Ängste und -Hoffnungen dargestellt und verhandelt werden (S. 111):
SF ist also weniger der Mythos der Moderne, sondern der Modus, in dem sich moderne Mythen vorzugsweise manifestieren und im Film zur Sichtbarkeit gelangen.
Die erste Hälfte endet damit, indem Simon Spiegel seinen Lesern Einblick gewährt in den von vielen Köchen umgerührten Hexenkessel der flottierenden neu-religiösen und neu-mythischen Haltungen des SF-Fandoms. Das ist eine nette Gelegenheit für einen Fußnoten-Gastauftritt des Wissenschaftsphilosophen (und Bright) Daniel C. Dennett, der in seinem Buch »Breaking the Spell – Religion as a Natural Phenonemon« schreibt (S. 392, Fn 5. Übersetzung von Molo):
May the Force Be With You! Is Luke Skywalker religious? Think how differently we would react to this incantation if the Force were presented by Geroge Lucas as satanic. The recent popularity of cienmatic sagas with fictional religions — The Lord of the Rings and The Matrix offer two other examples — is an interesting phenomenon in its own right. It is hard to imagine such delicate topics being tolerated in earlier times. Our growing self-consciousness about religion and religions is a good thing I think, for all its excess. Like science fiction generally, it can open our eyes to other possibilities, and put the actual world in better perspective.
Um eine Unterscheidung von Dennett aufzugreifen, bietet SF wie alle moderne Genre-Phantastik spirituelle Erlebnisse an, ohne daß man gleich in religiöse Haltungen verfallen muß. Es ist dieser der SF innewohnende transzendeniere Drive, der für Fans so attraktiv ist, und der viele SF-Fans mit einem gewissen Elitenbewußtsein speißt. Spiegel scheut sich dabei nicht, zu erwähnen, daß im SF-Fandom deshalb heikle, fließende Übergänge zwischen wissenschaftlicher Spekulation, esoterischer Grenzwisschenschaft (ich selbst nenne das grad heraus ›Aberglauben‹) und Verschwörungstheorien zu beoabachen sind. Aber Spiegel macht daraus keine Häme oder Denunziation des SF-Fandoms und rückt die SF auch nicht gleich in die Depperlecke. Diese mythisch-spirituelle Macht der SF bietet, meiner Ansicht nach, erfeuliche Handhabe zur Befreiung vom instrumentalisierenden Apparate- und Insitutionenen-Weltbild; aber ich stimme Simon Spiegel zu, wenn er auf die sich aus dem gleichen Quell nährenden, beunruhigenden Monsterentwicklungen wie Scientology und Aum-Sekte verweist. Man denke auch an die quasi-religiöse Erregtheit von unheilbringenden Utopie-Eroberungsunternehmung, die z.B. als fundamentalistische Kommunismus-, Nationalismus- und Kapitalismus-Heilslehren herumwüsten.
WILLKOMMEN IN DER MONTAGEHALLE
Im etwa 200 Seiten umfassenden Hauptteil seines Buches nimmt uns Spiegel dann in sieben Kapiteln mit in die Werkstatt der SF, und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen SF (aber zu einem Gutteil eben die ganze moderne Phantastik) ihre Werke zusammenbosselt. Es geht dem Autor dabei nicht darum zu postulieren, wie gute SF zu sein hat, sondern Spiegel will genauer herausstellen, was SF-Werke auszeichnet, die als gelungen angesehen werden. Dies beginnt er erstmal mit der Erörterung narratologischer Fragen, also Fragen dazu, wie Geschichten erzählt werden und wie sie warum funktionieren. Nun kann man lernen, was genau fiktionale Welten sind, wie sie auf unserem Verstädnis und Wissen die reale (faktischen) Welt aufbauen, und wann sie in besonders in Filmgestalt ihre Zuschauer simpel gesagt überwältigen und kidnappen (ich sag nur Klangwelten & Heftigkeits-Steigerungs-Spirale).
(Peergroup-Druck mal beiseit) entscheidet letztendlich und wertet jeder Konsument einer Fiktion für sich selbst, wann ihm eine ausgedachte Geschichte oder gar Welt zu abgedreht, beleidigend, übertrieben ist. Solche Entscheidungen hängen davon ab, über welches Fakten-Wissen die Wirklichkeit betreffend der Leser verfügt, welche Art von Genuß er aus einer Fiktion ziehen will, welche Methoden der Darstellung, welche Themen und welche Handlungswendungen im vertraut und genehm sind, und wie flexibel die Vorstellungskraft und das Hineinsetzvermögen des Lesers ist. Um es kurz zu machen: gerade am Beispiel der in den letzten Jahren aufgekommen ›Virtuel Reality‹-SF-Sparte führt Simon Spiegel vor, wie vermeidlich Reales sich als Täuschung, Traum oder Halluzination entpuppt. Der Eigentümlichkeit von Filmen wie »The Matrix«, »eXistenZ« und »Vanilla Sky« beruht nach Spiegel darauf (S. 162),
daß wir vorrübergehend keine Aussenansicht auf die fiktionale Welt erhalten und deshalb nicht sicher sein können, auf wie vielen Realitätsebenen sich die Handlung bewegt.
Und zu den Glanzstücken von Spiegels Buch gehört eine genaue Analyse der Gefängniszellen-Szene von David Lynchs Film »Lost Highway«. Hier zeigt der Autor sehr gewitzt, wie ein willentlich äußerst rätselhafter Film plausibel aufgedröselt werden kann, wenn man bestimmte Konventionen, z.B. der SF (Beam me up), als Erklärung heranzieht.
Zum wesentlichen Werkzeug von SF (wie aller Phantastik) gehört die Metapher, also das Kostümieren von Gedanken und Inhalten. Metaphern zeitigen Erkenntnis, indem sie locker Gemeinsamkeiten und Verbindungen herstellen, und somit neue Blickwinkel befördern. Achtung: Metaphern funktionieren nicht so streng wie Allegorien, denen immer fixe Entsprechungsregeln zugrunde liegen. Eine Metapher bietet mehrere Deutungsmöglichkeiten an, eine Allegorie nur eine (eine Frau mit Augenbinde, Schwert und Wage ist immer Justitia; das böse Imperium aus »Star Wars« kann man deuten als Anspielung auf die Nazis, oder auf den militärisch-industriellen Komplex Amerikas, oder auf die kommerzielle Hollywoodmaschinerie). Interessant ist, wie Spiegel zeigt, daß sich bei Metaphern im Kleinformat die Spannung zwischen Konvention (Vertrautem) und Abweichung (Originellem) wiederholt, von der auch die Entwicklung eines Genres angestrieben wird. Grob gesagt: Was heute ungewöhnlich ist, schleift sich schön langsam zu etwas Üblichen ein und verkommt schließlich zur langweiligen Rezeptur (und mit etwas Glück und der Hilfe vieler dienstbarer & begeisterter Geister kann ein Revival den Kreisel neu andrehen).
Die folgenden Kapitel beschreiben nun im einzelne SF-spezifische Ästhetikfragen (wie Naturalisierung und Verfemdung, Erhabenes und Groteskes) und absolvieren dabei quasi nebenbei auch philosophisch-anthropolgisch Steifzüge, am deutlichsten im Kapitel über (konzeptionelle) Durchbrüche, wenn Simon Spiegel seinen Leser einen Diskurs zur Frage »Was ist der Mensch?« offeriert. Das ist für mich wahrhaftige Sachbuchwonne, denn alle Phantastik wird zutiefst von ›philosophischen Energien‹ durchströmt.
›ERLEUCHTUNG DURCH FABULATIONEN‹
Bisher habe diesen enorm wichigen Begriff der SF, Sense of Wonder, ausgespart, obwohl er sich wie ein Leitmotiv mit Variationen (das Novum, der Conceptual Breakthrough) durch Simon Spiegels Buch verteilt. In seinem knappen, dafür aber sehr persönlich gehaltenen Schlusswort legt Spiegel die Haltung des nach strenger Distanzierung trachtenden Wissenschaftlers ab, und schildert richtiggehend ergreifend seine Kino-Sense of Wonder-›Initiation‹, wenn er sich erinnert, wie er als Sechzehnjähriger zum ersten Mal »Blade Runner« sah (S. 331f):
…nichts hatte mich auf das vorbereitet, was ich in den folgenden zwei Stunden erleben sollte — denn ein Erlebnis war diese Vorführung in der Tat. Ich sah nicht einfach einen Film, ich wurde vielmehr von ihm in Bann geschlagen, verfolgte mit offenem Mund die Geschehnisse auf der Leinwand, tauchte ganz in das düstere Los Angeles des Jahres 2019 ein. {…} Am nächsten Tag war ich immer noch wie benommen. Mir war klar, daß ich etwas Besonderes gesehen hatte, daß »Blade Runner« mehr war als ›bloß ein Film‹. Auf der Kinoleinwand hatte sich eine neue Welt entfaltet, wurden große Themen und tiefe Gedanken verhandelt, die ich zwar kaum artikulieren, dafür umso intensiver fühlen konnte. Kino war mit einem Mal mehr als reine Unterhaltung, es war zu etwas Wichtigem un Kostbaren und Wunderschönem geworden.
Wenn ich nun ›Sense of Wonder‹ schlicht mit ›umfassenden Staunen‹ übersetzte, kann ich hoffentlich überzeugend meine Ansicht unterstreichen, daß Phantastik-Genres mit nichts weniger hantieren, als eben der grundmenschlichen Sehnsucht und Fähigkeit, sich vom eigenen Leben und der Welt an sich hingerissen verblüffen zu lassen. Die SF bedient sich zum Herstellen glaubwürdiger Einbettung für dieses umfassende Staunes vornehmlich des Fundus, den Wissenschaften und Technik zur Verfügung stellen. Diese Fähigkeit zum Staunen ist es, die Menschen einerseits davor bewahrt, von den niederziehenden und beengenden Tatsachen des wirklich stattfindenden Lebens vollends entmutigt zu werden; aber (leider) kann andererseits dieses Staunen mißbraucht werden, um daraus betäubende, entmündigende Verführungskarotten zu machen, denen Spektakeljunkies willig hintergerzockeln.
Simon Spiegel schafft es Dank klaren Stils, gewissenhafter Recherche sowie einem guten Händchen für griffige Zitate und augenöffnende Beispiele (dem Buch liegt eine DVD mit wundervollen Exempeln bei!), seinen Leser ein aufgewecktes Gespür für dieses Staunen zu vermitteln, vor allem natürlich, was SF-Filme angeht, aber auch Phantastik und Geschichenerzählen überhaupt betreffend. Die argumentative Schärfe und umsichtige Art Spiegels essentialistischen, idealistischen und (durch welche Motive auch immer) ›willkürlich‹ bestimmten Wertungs-Hierarchien auszudribbeln, macht darüberhinaus das Buch zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für SF, Film und Medien interessieren.
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Simon Spiegel: »Die Konstitution des Wunderbaren – Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films«
Zürcher Filmstudien 16; Schüren Verlag; Marburg 2007; 33 z.T. farb. Abb., DVD mit Filmbeispielen, 385 Seiten.
(Eintrag No. 386; Gedichtvertonung) — Hurrah! Ein Freund der MoloChronik hat dafür gesorgt, daß ich größere Dateien FTP-en, und damit z.B. umfangreichere Musikstücke hier anbieten kann.
Ist schon einige Jahre her, daß ich das großartige Apokalypsegedicht »The Second Coming« von W. B. Yeats vertont habe. Einmal (anläßlich eines Follow-Festes auf der Ludwigsburg) hab ich es auch öffentlich auf der Amateurbühne zum Besten gegeben. Damals waren nicht wenige überrascht, daß ich Musik mach, denn ich hab nun mal vornehmlich den Ruf weg, ein Gehirn- und Labertier zu sein, das vornehmlich von Büchern und Filmen lebt.
Das folgende ist eine rohe Arbeitsversion, erstellt mit dem tollen »Garage Band«-Programm von Apple. Fünf Stimmen und ein durch den Verstärker gejagtes Akkordeon.
Turning and turning in the widening gyre
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.
Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.
The Second Coming! Hardly are those words out
When a vast image out of Spritus Mundi
Troubles my sight: somewhere in the sands of the desert
A shape with lion body and the head of a man,
A gaze blank and pitiless as the sun,
Is moving its slow thighs, while all about it
Reel shadows of the indignant desert birds.
The darkness drops again; but now I know
That twenty centuries of stony sleep
were vexed to nightmare by a rocking cradle,
And what rough beast, its hour come round at last,
Slouches towards Bethlehem to be born?
Meine Übersetzung geht so:
DIE ZWEITE WIEDERKUNFT
Kreisend und kreisend in einem sich weitenden Strudel
Kann der Falke den Falkner nicht mehr hören;
Alles fällt auseinander; die Mitte vermag nicht zu binden;
Bloße Anarchie bricht über die Welt herein,
Die blutgetrübte Flut rollt heran und überall
Wird die Zeremonie der Unschuld ertränkt;
Den Besten mangelt es an Überzeugung, weiland die Schlechtesten
Erfüllt von leidenschaftlicher Heftigkeit sind.
Sicherlich steht eine Offenbahrung bevor;
Sicherlich steht die Zweite Wiederkunft bevor.
Die Zweite Wiederkunft! Kaum sind die Worte gesprochen
Als ein riesige Erscheinung aus dem Weltengeist
Meine Sicht verstört: irgendwo im Sand der Wüste
Eine Gestalt mit dem Körper eines Löwen und dem Kopf eines Mannes,
Der Blick leer und mitleidlos wie die Sonne,
Bewegt seine trägen Schenkel, wärend weit darüber
Die Schatten aufgebrachter Wüstenvögel taumeln.
Die Finsternis sinkt wieder herab; doch nun weiß ich
Dass zwanzig Jahrhunderte steineren Schlafes
Durch eine schaukelnde Wiege zu Alpträumen getrieben wurden,
Und welch grobes Biest, dessen Stunde schließlich naht,
Kriecht nach Bethlehem um geboren zu werden?
•••
Ich selber bin weder Anhänger oder Praktiker von okkulter Mystik oder religiöser Offenbahrungsinnigkeit, aber ich finde dieses Gedicht trotzdem schön (unheimlich). Kennengelernt habe ich den Text durch das Lesen den wundervollen Romans »Armageddon Rag« von George R. R. Martin. Dieser Roman ist ein melancholischer Abgesang auf die Gegenkultur der 60ger-Jahre. Darin geht es um die fiktive Rockgruppe ›Nazgul‹, die eben aus diesem Yeats-Text einem bombastischen Art Rock-Song gemacht haben. Wer wie ich diesen Roman schätzt, wird sich vielleicht die entsprechende Aufbereitung vorstellen können (lange Instrumental-Passagen, viele Stromgitarren usw.).
Auch Freunde der HBO-Serie »The Sopranos« kennen dieses Gedicht. In der letzten Staffel, der 84. von insgesammt 86 Folgen, lernt AJ dieses Gedicht an der Uni kennen (wunderbar rezitiert vom Darsteller Robert Iler!)
Eintrag No. 385 — Ich wage mal zu prophezeien, daß innerhalb des nächsten Jahres der Name Neil Gaiman endlich auch bei und zu einer endgültig strahlenden Größe der Mainstream-Phantastik wird (freilich nicht so ein gewichtiger Magnet wie Tolkien oder Rowling, aber deutlich bekannter als bisher).
Immerhin: er war 2006 (und davor auch schon) auf Lesetour im Deutschsprachigen unterwegs; sein großes Hauptwerk, das 10-bändige Comicepos »Sandman« erscheint in neukolorierter und neuübersetzter Fassung endlich in einer schönen Ausgabe; und — last but not least — drei Filme nach Gaimans Stoffen stehen ins Haus (mehr darüber in meinem Bericht der Buchmesse-Leibzig-Lesungen von Gaiman). Als erstes kommt am 18. Oktober 2007 »Stardust« zu uns.
Die Berichte von Testvorführungen in den englischsprachigen Webgefilden lassen mich hoffen, daß ›Besser-Fantasy-Freunde‹ gehörig auf ihre Kosten kommen. Die Verfilmung fährt mit einem Reigen z.T. länger nicht mehr gesehener Stars auf (neben Claire Danes, Jeremy Irons und Robert de Niro u.a. Michelle Pfeiffer und Peter O’Toole). Auch der wohlwollende Vergleich den begeisterte Testgucker zwischen der »Stardust«- und der »Die Braut des Prinzen«-Verfilmung ziehen, läßt zumindest mich hoffnungsvoll fibbern. Handelt es sich doch bei Williams Goldmans Klassiker »Die Braut des Prinzen« doch um einen modernen Klassiker der leichtfüßigen, munter fabulierfreudigen Fantasy, in der das Genre zwar nicht so bierernst und ›äpisch‹ daherkommt wie bei den geliebten Schlachtenpanoramen, die (zumindest meiner Meinung nach) unseeligerweise das Bild von dem was Fantasy leisten kann dominieren. Aber dafür brilliert »Stardust« wie auch schon Goldmans Meisterwerk mit lebendigen, lebensechteren Figuren, die im Gegensatz zu Heilgeschichtenfantasy nicht »sprechen und agieren, als ob sie Marmor scheißen würden«(um in etwa einem Ausspruch den fiktiven Herrn Mozart aus dem Drama/Film »Amadeus« zu zitieren). Dabei nehm ich die »Der Herr der Ringe«-Romane & Verfilmung mal in Schutz, denn diese überragen, trotz aller Epik-typischen Schwächen & Eigenheiten, solch oberöde und peinlich anzuschauende Abklatschwahre wie »Eragon« und »Narnia« bei weitem.
Und dennoch: auch Gaiman fühlt sich aufgerufen, sich abzugrenzen vom übergroßen Einfluß Tolkiens und seines Mittelerde-Ringkrieges auf das, was man im englischen Raum heute ›Fantasy‹ nennt. So erzählt er Quint von »Aint It Cool News« seine Ambition zu »Stardust«(Übersetzung von Molo):
GAIMAN: Tolkien ist wundervoll. Ich bin ein großer Fan von »Der Herr der Ringe«, aber trotzdem: es hat etwas auf sich damit, wie sich das Fantasy-Verständis aller hinsichtlich von »Der Herr der Ringe« seit dessen Erscheinen gewandelt hat. Mich fasziniert nun mal diese Zeit vor 1930, wenn ab und an Menschen Fantasy, also Märchen- und Elfen-Geschichten schrieben. Man schrieb damals magische Erzählungen und das waren einfach nur ganz normale Romane. Es gab da nicht etwa eigene Regale für Fantasy. Man schrieb Romane, die halt in Form von Märchen auftraten.
So war auch meine Einstellung als ich »Stardust« schrieb. Ich wollte etwas machen, daß ganz für sich stehen kann, das anders war und sich doch wie Fantasy, wie ein Märchen anfühlen sollte. Dabei war mir von Beginn an klar, daß es eine ›Romanze‹ {engl. ›romance‹; die Übersetzung mach daraus nict ungeschickt ›zauberhaftes Abenteuer‹ — Anmerk. Molo} werden sollte. Auch beim Schreiben selbst hatte ich die Liebesgeschichten alter Screwball-Komödien als Vorbild im Sinn. Sachen wie »Es geschah in einer Nacht«{Dem Frank Capra-Klassiker von 1934 mit einem jungen Clake Gable und der bezaubernden Claudette Colbert in den Hauptrollen — Anmerk. Molo}: da sind Heldin und Held gemeinsam unterwegs, und die beiden können sich zuerst gar nicht ausstehen, verlieben sich aber aber schließlich ineinander und werden ein romantisches Pärchen.
Für mich immer schön, wenn statt Epik weniger pathetiklastiges Zeug als Inspirationsquell herangezogen wird. Aber was bietet nun »Stardust« das Buch?
Der Phantastik-Weltenbau geht so: Seit mindestens sechshundert Jahren gibt es in England das Örtchen Wall, und dort befindet sich eine Mauer deren einzige Lücke von den Dorfbewohnern bewacht wird. Denn: diese Lücke ist ein permanenter Übergang in die Elfen-, Zauber-, Märchenwelt. Jenseits der Mauer befindet sich eine Wiese, an die grenzt ein Wald an und was dahinter kommt, kann man sich als Leser munter selbst ausmalen (Gaiman würzt zwar seine Erzählung munter mit Terrain-Namen der Elfenwelt, aber es gibt — mutiger- und für mich erfeulicherweise — keine Karte.)
Im ersten von zehn Kapiteln lernen wir noch nicht den eigentlichen Helden kennen, sondern bekommen erstmal die erotischen Jugendabenteuer seines Vaters Dunston Thorn geschildert. Alle neun Jahre im Mai findet nämlich ein Markt auf der Elfenwiese statt. Wir lernen Wall und einige Bewohner kennen, genauer: das Dorf Wall der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa um 1837-1839 (so mache Rezischreiber/innen haben das nicht gerafft und verorten die Geschichtlich zeitlich grob zu früh oder zu spät), als Königin Victoria regierte und Charles Dickens in Fortsetungen seinen »Oliver Twist« in »Bentley’s Miscellany« veröffentlichte. Am Ende des ersten Kapitels ›erntet‹ Papa Thorn neun Monate nach seiner Markt-Liebesnacht seinen Elfen/Menschen-Mischlings-Sohn Tristran.
Jahre vergehen, und wir begleiten Tristran als liebesblinden Verehrer der Dorfschönheit, der er eines Nachts verspricht, ihr eine Sternschnuppe als Beweis seiner ergebenen Liebe zu bringen. Das Dumme: die Sternschnuppe kam auf der Elfenseite der Mauer runter und entpuppt sich dort als junge, eigenwillige Frau. Auf seiner Queste steht Tristran diesem Stern in Menschengstalt bei, denn die Arme hat sich bei ihrem Sturz einen Fuß gebrochen. Zudem sind andere hinter der Gefallenen her. Die Anführerin eines Hexentrios, der Lilim, hat vor, der Sternenfrau das Herz rausschneiden, damit die Lilim weiteren Zauber zum Erhalt ihrer Jugendlichkeit wirken können. Und die lebenden (und toten) Söhne des verstorbenen Königs des Elfenlandes kabbeln und itrigieren darum, den gestürzten Stern in ihren Besitz zu bringen, denn damit wird die Thronfolge entschiedenen.
Mir gefällt vor allem das Neben- und Ineinander, mit dem der große Bogen des Romantik-Ping-Pongs und die episodenhaften Stationen der verschiedenen Questen miteinander verwoben sind. Und ich liebe wie immer die Kunstfertigkeit, mit der Gaiman kleine Geschichen in der Geschichte unterbringt und anschneidet. So erzählt die Lilim-Anführerin in einer Szene nächtens am Lagerfeuer (S. 116):
»Man hat die Lilim schon des Öfteren für tot erklärt, aber es war jedes Mal gelogen. Das Eichhörnchen hat die Eichel noch nicht gefunden, aus dem die Eiche wachsen wird, die das Holz für die Wiege des Kindes liefert, das mich erschlagen wird.«
Und eine Seite weiter endet dieser Abschnitt so:
Zögernd hoppelte ein Eichhörnchen in Licht des Feuers. Es nahm eine Eichel, hielt sie einen Moment in seinen handartigen Pfoten, als wollte es beten. Dann rannte es davon, um die Nuss zu vergraben und zu vergessen.
Diese Art von Phantastik-Tollerei begeistert mich ja auch bei Tolkien (ich denke an den über die lärmenden Hobbits grollenden Fuchs). Kurz: Derzeit kenne ich keinen Phantasten, der es so hervorragend versteht, zugleich gradlinig und auf Umwegen zu erzählen, wie Gaiman.
ACH, GEJAMMER
So. Nun will ich meine klagenderen Töne nicht länger zurückhalten, denn manchmal ist es eben zum Verzweifeln.
Da werden im anglo-amerikanischen liebevoll gestaltete Sachen vorgelegt, so richtig dolle altmodisch mit fetten Illustrationen und Vignetten, Federzeichnungen in schwarz-weiß, mal flüchtiger (150 Vignetten und Rahmen), mal aufwändiger (4 doppelseitige und 19 ganzseitige Bilder) gearbeitet, davon ganzseitige, Arbeitsskizzen. Einige schöne Beispiele kann man im Greenmanspress-Blog von Charles Vess bewundern. Aber die Lizenzheinis von Heyne haben sich bei der deutschen Erstausgabe die ›Nur Text‹-Version andrehen lassen. Ob Stephen Kings »Dunkler Turm«, Susanna Clarkes »Die Damen von Grace Adieu« oder eben Gaimans »Sternenwanderer«, für uns deutschsprachige Trottelkunden reichts billig und unzierlich. »Ist ja nur Fantasy und Genrequatsch«, scheint man in den Kalkulationsabteilungen zu denken. Das mag für einige Genre-Leser gelten, aber ich werde weiterhin nölen und mosern, wenn ich über solche Schwachmatik stolpere, und ich werde mich hüten solche schmucklosen Deutschausgaben zu kaufen (aber: als Unterwegslektüre ist die ›Nur Text‹-Ausgabe freilich besser geeignet).
Dann aber leider: Die Übersetzung von Christine Strüh schwächelt z.B. was den Umgang mit kursiven Stellen betrifft. Was ist so schwer daran, im Deutschen konsequent kursiv zu formatieren, was auch im Englischen kursiv ist?
Auch sind (wohl wegen Stress, Hektik, Fußpilz) veloren gegangene Stellen zu beklagen. Einmal habe ich sogar einen ganzen fehlenden Absatz erspäht (S. 61 sowohl in dt. wie angl. Ausgabe):
A small, yellow bird in a cage sat on its perch outside the house. It did not sing, but sat, mournfully upon its perch, feathers ruffled and wan. There was a door to the cottage, from which the once-white paint was peeling away.
Ein kleiner, gelber Vogel saß auf seinem Ast vor dem Haus. Er sang nicht, sondern hockte auf seinem Ast, die Federn zerrauft und blass. Eine Tür führte in das Häuschen, von der die einstmals weiße Farbe abbröckelte.
Bei anderen Gelegnheiten stelle ich fest, daß die deutsche Ausgabe deutlich ausführlicher als meine englische Edelausgabe von Titan Books. (Das kann aber auch Gaimans eigenem Durcheinander liegen, denn es gibt im englischsprachigen eben auch Nur-Text-Ausgaben — und auf dieser beruht die Übersetzung von Christine Strüh — für die Gaiman hie und da den Text bearbeitet hat. Schönes Durcheinander wieder mal. Immer diese Kreativen!)
Aber aus, weg ihr Nörgelgedanken, denn immerhin ist nun was »Stardust« angeht der Not-/Mißstand behoben, noch dazu, weil die schmuckvolle Ausgabe einen bemerkenswert günstigen Preis hat (Neupreis ca. 20 Euro).
Götz Piesbergen für Splashbooks (›nur Text‹-Ausgabe): »Neil Gaiman hat nämlich ein paar Szenen eingestreut, die, sagen wir mal, nicht für Leute mit schwachem Magen geeignet sind. In diesen Szenen wird ziemlich detailliert gestorben und geschlachtet, was dann eher unpassend wirkt.
Das heißt nicht, dass das Buch bierernst ist. Einige Figuren und Szenen haben einen schönen schwarzen Humor, den sie mit sich tragen.«
— Woher kommt diese refelxhafte Pfui-Bäh-Abneigung von Fantasy-Fans gegen Härten? Warum sollte in Fantasygeschichten irgendwie lieber und süßer gestorben werden als in anderen Genres? Da kann ich ja gleich Teletubbies gucken und den lieben langen Tag mit der Sonne lachen. NeNe, lieber Götz: richig gute Phantastik wie die von Gaiman bietet eben neben dem Bezaubernden, Romantischen, Lustigem auch das Unheimliche, Brutale und Gemeine.
Mistkäferl für Bibliotheka Phantastika (›nur Text‹-Ausgabe): »Der Autor benutzt die genreübliche, leicht anachronistische Sprache äußerst virtous und versteht es, komische Szenen gekonnt einzubauen … enormer Ideenreichtum.« — Auch hier werden Gaimans »typisch(e) abgedrehte Horrorelemente« besorgt vermerkt. Ja sind denn die Grimm-Geschichten nur Friede, Freude, Eierkuchen. Unheimliches und blutiges gehören nun mal zu einem richtigen Märchen.
Michael Matzer für carpe librum (›nur Text‹-Ausgabe): »Dies ist ein wirklich zauberhaftes und ironisch erzähltes Garn, das uns Gaiman da vorsetzt. Und man unterhält sich auch wunderbar dabei, wartet doch an jeder Ecke eine neue Überraschung.«
Arielen (Christel Scheja) für Rotern Dorn (illustrierte Ausgabe): »Der Roman ist jedoch kein Märchen für Kinder, dazu sind die angesprochenen Themen zu komplex und die Figuren zu bösartig. »Der Sternenwanderer« richtet sich eher an Erwachsene, die die kleinen Anspielungen und leisen Zwischentöne in den Zeilen herauslesen können und sich voll und ganz auf dem magisch mythischen Text einlassen wollen.« — Nichts für Kinder! Also ich mochte als ›Noch Nicht‹-Teen und Frühteen solche blutigen, facettenreichen Sachen.
Abschließend also meine Leseempfehlung: »Sternenwanderer« ist was für aufgeweckte Jungleser (so ab 10 bis 12 würd ich sagen), und die illustrierte Ausgabe kann man meiner Meinung schon gewitzten Noch-Jüngeren in die Hand drücken.
(Eintrag No. 383; Portrait, Literatur, »Bibliothek von Babel«-Autor) — Demnächst gehts weiter hier mit meiner Serie zur Büchergilde Gutenberg-Neuauflage der von Jorge Luis Borges zusammengestellten »Bibliothek von Babel«. Auf Lord Dunsany, einem bei uns schändlich unbekanntem Meister der Vor-Tolkien-Fantasy, habe ich bei meiner (englischsprachigen) eText-Beute von Phantastik-Klassikern verlinkt. Allein schon, daß seine im anglo-amerikanischen überaus einflußreichen Werke »The Gods of Pangea« und »Time and the Gods« immer noch nicht auf Deutsch vorliegen ist eine große Peinlichkeit.
Hier der junge Lord Dunsany als Soldat:
Und der alte Lord Dunsany als grinsender Märchenonkel:
Beide Zeichnungen wurden mit verschiedenen Faber-Castell PITT Art-Pens in ein hochformatiges Moleskin-Buch gezeichnet.
Eintrag No. 382 — Verwirrung erstmal. Zuviel Ungeheuerliches ist auf einmal geschehen. Wie der Fuß eines Riesen stampfte das ›Schicksal‹ einmal in den USAmeisenhaufen. Wie immer, wenn z.B. Präsidenten erschossen wurden, Schiffe sanken, Atomkraftwerke hochgingen, Raumfähren explodierten, Sekten in U-Bahnen die Apokalypse einläuten wollten oder Einzelgänger im Amokrausch einen Haufen Mitmenschen killten, sicher ist: Jedes spektakuläre Unglück zieht investigative Anstrengungen nach sich. Die Betroffenen und Hinterbliebenen möchten verzeifelt verstehen: »Wie es dazu/soweit kommen konnte?«.
Wie wohl so manch anderer auch, habe ich noch einen Stapel Berichte, kopierte Zeitungsartikel und Sonderausgaben verschiedener Magazine über IX.XI angesammelt. Da kommt mir nun dieses Sachcomic, das auf dem gleichnamigen, sehr dicken Report der 9/11-Untersuchungskommission beruht, gerade recht.
Immerhin führt gleich der Beginn eindringlich vor, welche großartigen Darstellungsmöglichkeiten die graphische Erzählform bietet. Statt die Unglückschronologie der vier entführten Flugzeuge nacheinander aufzubereiten, stellt das Comic auf den etwa ersten 30 Seiten in vier waagrechten Schichten die zeitliche Folge der Ereignisse gleichzeitig dar. Der Umstand, daß das letzte der vier Flugzeuge noch gar nicht gestartet war, als der erste Flieger in den Nordturm des World Trade Centers einschlug, wirkt auf diese Weise besonders verstörend.
An besagten September-Dienstag vor sechs Jahren kramte ich doch mal wieder (nach einigen Monaten der Vernachlässigung) damalige Kladde heraus und schrieb:
11. September 2001: Anschlag auf USA. Nicht überrascht. Habe ein solches mit dem zunehmenden Chaos seit Regierungsantritt von Bush jr. mehr oder minder erwartet. Inzwischen, nach 6 St. Infosucking breche ich (emotional & konzentrationsmäßig) a weng zusammen. Dies ist für die Meisten wohl der Beginn eines neuen Zeitalters. Die ›Moderne‹ ist vorbei, wobei die Chance ist, daß Amerika (und der Westen) zum Erwachsensein und Beenden ihrer Heuchelei ›geprügelt‹ werden. In SF-Welten wird manchmal etwas vorgestellt, daß im frühen 21. Jhd. anhebt: The New Dark Ages.
Auch heute noch empfinde ich die IX.XI.-Anschläg auf World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus größtenteils als etwas Beruhigendes, Klärendes. Die Welt hat sich mal unumwunden als das entblößt, wofür ich sie (kleiner Katasthophikus der ich bin) schon lange halte; als chaotisches Jammer- und Jubeltal, als Arena der Rangelein um Verwöhnungsresourcen aller Parteien die auf dicke Hose machen. Jedes Kollektiv will halt erstmal für sich und seine Leute ein schickes Paradies abgrenzen. Zugegeben: seit den Anschlägen wurde deutlich, wie sehr ›dem Westen‹ — sprich: den Ex-Kolonialmächten der Globalierungstäter — das von ihren Aufbruchsdynamiken verursachte Ungleichgewicht und Elend der Globalisierungsopfer Wurscht war.
New York ist also entsetzt, die westliche Welt fällt auch allen Wolken vor geschockter Verdutztheit; im Orient aber werfen viele begeistert und freudig die Arme in die Höhe und heben zu gern den Aktions- und Konzeptkünstler Bin Laden als Robin Hood unserer Tag auf den Schild. »Kampf der Kulturen« nennen das dann jene, die beim Interpretieren von Politik und Geschichte über (zivilisierte) Cowboys und (bestialische) Indianer nicht hinauskommen. Groß ist die Verführung, den Hexenkessel der menschlichen Konflikte auf das Niveau eines Schachspiels zwischen zwei Parteien zu versimpeln.
Kein anderes Land der westlichen Moderne versteht es so glänzend wie die USA, seine Wahloligarchie (vulgo: Demokratie) zugleich sakral und pragmatisch zu inszenieren. Das Sakrale liefert dabei den Drive und die Aura für das mediale Auftreten, als erwählte Nation, als Heim der Mutigen, als Gottes ureigenes Land. Dass dieses gelobte Land dabei zutiefst durch die Offenbahrungswahrheiten fundamentalistischer Evangelikaler und die Chauvenismen z.B. der WASP-Minderheit pervertiert wurde, wird mittlerweile auch von den US-Amerikanern selbst kritisch verhandelt. Da kamen Topf und passender Deckel zusammen, als selbsternennte Heilige Krieger im Namen eines anderen montheistischen Obermännchens ein buchstäbliches Mordsecho als Erwiderung auf diese Machtarroganz verlauten ließen.
Mittlerweile sprechen ja die US-Amerikaner selbst über die auffälligen Ungerechtigkeiten ihres mehr oder minder unverhüllten Feudalismus, der krassen asymmetrischen Macht- und Wohlstandshierarchie, die die ganze westliche Welt mehr oder weniger prägt (und ja: auch ich halte diese westliche Schieflage noch immer für ›besser‹, als die traditionellen, vormodernen Stammesformate der Zweit- und Drittwelt-Gesellschaften).
Von all dem ist in der Comic-Adaption nicht ausdrücklich die Rede, bildet aber für mich den Hintergrund, vor dem die Anstrengung des Verstehens sich lohnend lesen lassen. Zu komplex und undurchschaubar ist das ganze Geflecht aus Politik und Medialität.
Was das Comic aber schön herausgarbeitet, ist die seltsame Untätigkeit und ›Selbst im Weg Steherei‹ der Geheimdienste und Sicherheitsinstitutionen vor und während der Anschläge. Dass sich in den radikalisierten Kreisen des mittleren Ostens etwas zusammenbraut zeichnete sich lange vor IX.XI ab, wie der Kommissionsbericht rügt. Man hätte schon zu Clintons Zeit etwas unternehmen können. Was nicht im Comic steht abr für mich ebenfals zum wichtigen Hintergrund gehört, ist die peinliche Tatsache, daß die amerikanische-westliche Öffentlichkeit u.a. mit hysterischen Voyeurismus lieber der Ausbreitung der intimen Fehltritte ihres Präsis Clinton Aufmerksamkeit schenkte; auch das Pahö um den Hickhack der gefinkelte Wahlen und des umstrittenen Sieges der Bush jr.-Regierung trug nicht dazu bei, daß Amerika und der Westen aus ihrer notorischen Baunabelpuhlerei bei Zeiten heraufand. So schlug dann scheinbar völlig aus dem Nichts kommend überraschend die Große Geschichte vier Mal auf die größte Bushtrommel der Welt.
Ich will die Comic-Adaption nicht als Poragandawerk abtun, auch wenn ich ab und an genau diesen Eindruck bei der Lekütre hatte. Jedoch: Die ehrliche Anstrengung der Kommission, die eigenen Versäumnisse zu ergründen erscheint mir zutiefst aufrichtig. Mir, als ›kritischen Europäer‹, ist aber dennoch mulmig. Zwar finden sich viele der sprechensten Ikonographien die seit 9/11 in den Bildermythos des Informationszeitalters eingingen im Comic wieder. Es fehlt aber z.B. das dumme Geschau von Bush jr. bei seinem Besuch einer Grundschule, als ihm die Meldung vom Anschlag in New York zugeflüstert wurde; es fehlen die schrillen Töne von Bush jr., als er sich verbal auf die Brust trommelte:
»We will hunt them down and smoke them out« (»Wir werden sie {die Terroristen und ihre Hinterleute} zur Strecke bringen und ausräuchern«).
Später im Comic, bei den zwei Seiten über den Vergeltungkrieg der Amerikaner gegen das Talibanregime in Afghanistan lese ich zwar, daß diese Aktion von »Symphatiebekundungen für die USA« begleitet wurden. Kein Wort aber über jubelnde Sympathisanten der Anschläge, kein Wort über die politischen Einsprüche der westlichen Nationen und der bis heute anhaltenden weltpolitischen Verstimmungen (»Old Europe«), die der Krieg gegen den Terrormismus zeitigte.
Gerechterweise aber kann ich die Adaption loben, wenn es darum geht, wie nüchtern und dennoch ergreifend die Anschläge als schockierendes Unglück darstellt werden. So sehr man die US-amerikanische Hegemonialpolitik, dieses breitbeinige Gebahren als Möchtegern-Rom verachtet, die Erschütterung und Verunsicherung der amerikanischen Seele welche die Terroranschläge bewirkten, kommt glaubwürdig rüber. Sind halt auch nur Menschen, die Amis.
Das beginnt schon beim Umschlag: ganz unten ein Panoramabild der Manhattenskyline mit WTC und einem nahenden Flieger; darüber das monströse Räucherwerk der brennenden Türme; und darüber ein Feuerwehrmann, der aus Fassungslosigkeit sein Gesicht mit der Hand bedeckt.
Die unheimlichste Passage aber ist für mich als Maximalphantast der Ausklang des Buches, wenn die 9/11-Kommission Überlegungen anstellt, welche Lehre man aus dem Unglück ziehen kann, was man in Zukunft besser machen kann. Neunzehn Terroristen waren in der Lage, der letzten Supermacht deshalb gehörig ins Gemüth treten, weil die entsprechenden Organe der Supermacht zu wenig Phantasie zeigten. Es ist mehr als bittere Ironie, daß die Wohlstandszonen bis heute von paranoiden Zuckungen und Verschörungshysterien gelähmt werden.
(Das markanteste Beispiel, daß Fabulatoren der Unterhaltungsindustrie diesbezüglich den strategischen Analysten und Planern aus Politik und Armee ›überlegen‹ sind: ein halbes vor dem 11. September bot der Pilotfilm des »Akte X«-Ablegers »The Lone Gunmen« genau den Terroranschlag-Plot, nur mit der Wendung, daß es finstere Klüngler des militärisch-industriellen Komplexes der USA sind, die mittels Fernsteuerung ein Flugzeuganschlag auf das WTC durchführen wollen, um sich ein sattes Budget zu sichern.)
Im 9/11-Report und seiner Comicumsetzung heißt es entsprechend mahnend:
»Es muß eine Möglichkeit gefunden werden, wie Fantasie auch von Amts wegen routinemäßig eingesetzt werden kann.«
Man kann das von Donald Rummsfeld ins Leben gerufene ›Des-Informationskader‹ als eine Anstrengung dieser Routinisierung von Phantasie im War on Terror, im Rennen um das 21. Jahrhundert, im Dominanzgerangel des Informationszeitalters mit seinem Kampf um die besten Köpfe usw. sehen. Und dies ist vielleicht der unheimlichste Eindruck, den dieses spannend zu lesende Sach-Comic bei mir hinterlassen hat.
(Eintrag No. 381, Juvenilia, Kifferkunst) — Heute bin ich ja nur noch und, aber einst, vor langer Zeit war der Molo auch wild, jung. Wenn respektabele Philosophen und »Spiegel«-Journalisten öffentlich-rechtlich rausposaunen können, wie toll das damals war, während oder kurz nach der 1968-Zeitenwende, will ich auch einen Bekenner-Beitrag leisten, und meine prinzipielle Symphatie mit der eingrauchten Avantgardegeneration von damals, also den entsprechenden heutigen alten Säcken und Säckinnen kundtun, mit diesem verkifften kifferkritischen A. Dürer, E. Fuchs-Nachäff-Tuschefederbild aus meiner Wiener Zeit.
Von wann (etwa frühe ›Grunge kommt in Europa an‹-Ära) es ist, oder wie groß das Originial ist (verschenkt für echtes Black Worm-Fleisch, durch das aber meine damalige Adlerschreibmaschine total neurotisch wurde, und sich im Wahn einem Bienenschwarm anschloß), kann ich nicht genau sagen, da war ich noch nicht so nüchtern wie heut, aber in etwa A2 groß und an einem Wochenende mehr oder weniger elaborierten Improvisierens entstanden (immer abwechselnd ein Stück Bleistiftvorzeichnung, dann Tuscheausziehung, Bleistiftwegradierung).
Von zwei weiteren »Trigardia«-Großzeichnungen hab ich die unvollendeten Originale noch. Da die aber riesig sind, ists fraglich, ob ich die hier ins Netzel bekomme.