Sonntag, 13. Juni 2004
Gott ist rund und der Pöbel will ihn getreten sehen.
EDIT 28. Januar 2008: Um Skribbel-Illu ergänzt.
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(Gesellschaft) - Heute will ich mir gönnen, meiner Intoleranz freien Lauf zu lassen, und tue deshalb offen kund: ich hasse Fußball als Phänomen der Massenunterhaltung; die dieser Tage allgegenwärtige Europameisterschaft widert mich an; nichts zwingt mir so heftig ein Winston Smith-Lebensgefühl auf, wie diese mich umgrindende Volksbegeisterung fürs runde Leder. Der Leser weiß nicht, wer Winston Smith ist, und was für ein Lebensgefühl ich meine? Na dann google mal, lieber Nichtkenner von Orwell.
Dieser Eintrag ist also nur für meine Brüder und Schwestern im Leiden und der Angenervtheit, für jene, die Fußball ebenso ablehnen wie ich. Für eure Erheiterung hier ein paar schöne Zitate aus Sphären II - Globen von Peter Sloterdijk:
»Die Faszination von Turnieren {…}: Bei ihnen wird, analog zur Tierzucht, das Eliminationsverfahren zu einer menschgemachten Selektion. Er oder ich, wir oder sie – das wird in der Arena wie in einer Versuchsanordnung künstlicher Selektion eingeübt.« •••Seite 330
Die einzigen Turniere, die ich ertrage zu gucken, sind Schach- Golf und Snooker-Wettkämpfe, weil sie so unaufgeregt verlaufen, meditative Gegenstimmung zum Daumen rauf-, Daumen runter-Spiel bieten. Schön wären auch Dart-Wettkämpfe im Fernsehen; hats aber nie gegeben in meiner Zeit als Fernsehgucker. Dabei ideal fürs Fernsehen mit Splitscreen: links die Scheibe mit einschlagenden Pfeilen, rechts der Werfer im Bild. Tja, bleiben als Ersatz nur die seltenen Bogenschießenübertragungen bei den Olympiaden.
»Wenn das griechische Leitwort lautete: Erkenne dich selbst, so heißt das römische: Erkenne die Lage. {…} Als Theater der Selektion appellieren die römischen Spiele methodisch an die Notwendigkeit, einzusehen, daß die Grausamkeit immer recht hat. {…} Die Götter selbst sind zum Opportunismus verdammt; ihre Gläubigen müssen lernen, sich den Resultaten von Spielen, im Kleinen wie im Großen, wie Offenbarungen zu fügen. Nichts anderen meint Fatalismus als Religion: die Bereitschaft, in die vulgärsten Zufälle den Götterwillen involviert zu sehen.« •••Seite 334
Take what you can. Give nothing back … diese Weisheit liegt all dem Zugrunde, und wir kennen diese Worte als das Motto der Piraten aus dem Johnny Depp-Film. Ich fühle mich bei so was nicht wohl. Auf der Realschule als Teen habe ich beobachten können, daß, wo wir zum Spaß an der Freude Fußball kickten, noch alles fair und gesittet verlief. Vor den Ferien war es üblich, statt Zirkeltraining oder kompliziertem Gehüpfe, die ganzen drei Sportstunden durch ein Turnier abzuhalten, und das Spiel der Wahl war natürlich meistens Fußball. Hierbei sprangen dann bei denen aus der Klasse, die auf ihrem jeweiligen Dorfkaff in einer Jugendmannschaft spielten, die Profikonditionierungen an, die ihnen dort als Esoterik der Vereinsgemeinschaft antrainiert wurden. Faule, schubse wie wild und wage überhaupt jedes unfaire Manöver, reize den Handlungsraum hin zum Regelverstoß aus, soweit es möglich ist, lerne dann die Rüge durch den Schiri als behämmerte kleinmütige Ungerechtigkeit aufzufassen, und schleife dein Mitleid für den humpelnden Gegener, erst recht, wenn du selbst ihn getreten hast.
»Ohne Zweifel liegen in den Unterhaltugsexzessen der römischen Theater die Ursprünge der Massenkultur: mit ihm entstand eine frühe und komplette Form von Faszinationsindustrie, die gereizte oder dekadente Gesellschaften mit Erregung versorgt und in Verzauberung bindet. Der Amüsierfaschismus {…} nimmt funktional zahlreiche Merkmale der modernen Massenregie durch Erregungsmedien vorweg.« •••Seite 334/335
Mir ist die entsprechende Arena des Lichtspielhauses lieber, denn wenigstens muß ich hier nicht dem Zufall beim Schußern zuschaun, sondern habs mit einer (mehr oder weniger) durchdachten, komponierten, gestalteten Sache, ja sogar Narration, zu tun. Wirklich rätselhaft ist es mir, wie man sich als Fußballpublikum auch noch mit den Dingen jenseits des Rasens beschäftigen kann: mit den Ein- und Verkäufen der Vereine, der Tages-, Wochen- und Saisonverfassung von Spielern, Trainern und Ehefrauen, den Analysen vor und nach den Spielen, dem Gewese über Gruppenpsyche der Mannschaft, der Starspieler, der Fans, der Betreuer usw.
Früher, zu Breitners und Rummenigges Zeiten habe ich selbst noch mit dem naiven Interesse des Kindes neben meinem Vater jeden Samstag mitgeschaut und die Genervtheit meiner Mutter, daß das Abendessen wieder mal vorm Fernseher verzehrt wird, zuerst abgelenkt übersehen, später willentlich verdrängen müssen. Als junger Teen verflog mein Interesse für Sport dann und ich wandte mich Büchern und Kultur zu.
Nur Nick Hornby war fähig, mir in seinem Fever Pitch unterhaltsam von dem Wahnsinn der Fußballfans zu erzählen, ohne daß mein Ekel mir dabei dazwischenfunken konnte. Das wars aber auch schon an Fußballaufmerksamkeit bei mir, in den letzten 20 Jahren.
Nein, gar nicht wahr: Bei der letzten WM habe ich mich mit einem Weizen in Frankfurts Sachsenhausen in eine Kneipe gesetzt, und irgendein Deutschlandspiel (gegen England glaub ich) inmitten der Begeisterungsgruppe angeschaut … aber mehr der Athmo eines Sommertags wegen, wo mir das WM-Pahöö als Grund für ein Mittagsweizen zupaß kam. Außerdem kann ich, trotz dem ich ein Fußballverachter bin, sagen, daß ich dieses ganze taktische Finkelgedribble öde finde und den Spielstil, wie er als Klischee den Engländern und Schotten zugewiesen wird, als Zuschauer bevorzuge: Vorbolzen, nachlaufen, unterwegs rempeln wie Rammbock. Alles andere ist doch so unharmonisch, wie Achaier im Tütü vor Trojas Mauern, oder als ob Sturmtruppen mit Teekannen einen Bunker stürmen wollten.
WARNUNG: Alle Apologien des Fußballs, oder gar Erwiderungen gegen meine Fußballverachtung, wird nicht geduldet als Kommentar zu diesem Beitrag. Dieser Beitrag ist nur für Leidensgenossen. Dies ist mein hunderster Molochronik-Eintrag, und da will ich mal so'ne Arschigkeit zugestehen. Aber nur dieses eine Mal, sonst werde ich natürlich jeden Kommentar belassen wie er ist (so er nicht rüd die hochzuhaltenden Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung überschreitet).
Samstag, 12. Juni 2004
Freitag, 21. Mai 2004
Samstag, 15. Mai 2004
Dienstag, 11. Mai 2004
Sonntag, 25. April 2004
Richtig gute SF — Neal Stephenson: »The Diamond Age«
Eintrag No. 96 — Zu der Frage, was gute SF sei, habe ich im SF-Netzwerk einige Beiträge geschrieben (hier ein Link zu meiner ersten Meldung dort).
Neal Stephenson bietet für meinen Geschmack mit »The Diamond Age« ein feines Beispiel für gute Science-Fiction an. Auf Englisch habe ich den Roman vor einigen Jahren mal angefangen, bin aber durch einen Umzug unterbrochen worden. Vor Kurzem habe ich die hiesige Taschenbuchausgabe aus dem Ramsch gezogen und nutzte die Gelegenheit, das Buch bilingual fertig zu lesen.
Zur Handlung:
Die Welt nach der nanotechnologischen Wende irgendwann gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Die Handlung spielt größtenteils in Shanghai, Nebenschauplätze sind Vancouver, Californien, London. Erste Stärke für mich dabei: keine genaue Festlegung des Datums der Handlung, oder der vorausgegangenen fiktiven zukünftigen historischen Weltereignisse.
Da ist die Handlung um Hackworth, genialer Artifex der Nanotechnik, Angehöriger der Viktorianer (einer der mächtigsten Stämme, Clans, Gruppen, oder wie immer man die nicht-territorialen Patchwort-Staaten nennen mag; andere sind die Küstenrepubliken, das Himmlische Königreich und viele mehr). Für den Dividenden-Lord Finkle-McGraw entwirft und fertigt er das Original der »Fibel für junge Damen«, ein Wunderwerk der Kombination von Buch, Nanotechnik, Pädagoge, Künstlicher Intelligenz. Hackworth fertigt mit Hilfe des mysteriösen Dr. X. eine illegle Kopie der Fibel an, wird auf dem Heimweg überfallen und die Kopie landet bei der kleinen Nell.
Nell ist die Heldin des Buches im Doppelsinn: einmal als Primärprotagonistin, deren Leben »The Diamond Age« über circa 20 Jahre begleitet, und innerhalb der Geschichte als Schülerin der sie erziehenden und beschützenden Fibel. Stephenson schwingt sich zu iconographischen Höhenflügen auf, die man nur noch mit der christlichen oder superheldencomicartigen Bildsphäre vergleichen kann (Nell als Heilige, als erste weibliche große erfolgreiche Revolutionsgestalt der Geschichte als Ende von Kapitel 72). Die vierjährige Nell stammt aus den den unteren Sozialstrata der Zukunftsgesellschaft, lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, und wird von der Fibel regelrecht errettet.
Das Buch geizt nicht mit Nebenfiguren, die für meinen Geschmack sehr gut und anschaulich (lebendig) geschildert sind. So die Cyber-Schauspielerin Miranda die der Fibel die echte menschliche Stimme verleiht und zu einer niegesehenen Mutter für Nell wird, und ihr Boss Carl Hollywood; oder Richter Fang von den Küstenrepubliken, seine Beziehung zu dem Bösewicht Dr. X., aus dem Himmlischen Königreich und seine Ermittlungen … um nur einige der wichtigen interessanten Figuren zu nennen, deren Handlungen alle irgendwie mit dem Schicksal von Nell und ihrer Fibel zusammenhängen.
Der Schluß, also die letzten 50 Seiten sind ein Wahnsinn. Der große Schlußakkord an Aktion und Ineinander der Motive erfolgt wirklich auf den letzten Zeilen … mir fällt als vergleichbar lediglich das Ende von Helmut Kraussers »Melodien« oder John Irvings »Owen Meany« ein.
Struktur und Summa:
Das Buch teil sich in zwei Hälften. Die Kapitel sind in der Regel kurz gehalten, so daß es auf den 575 Seiten 74 davon gibt, jedes mit einer notizhaften Inhaltsangabe überschrieben (schöne Referenz an Tradition, siehe alte Bücher). Stephenson schreibt weitestgehend elegant, nur manchmal war mir das clevere Erklärungsgeklimper zu den zugestanden originellen Technikvisionen zu lang … aber ich habs halt nicht so mit Haarkleinbeschreibungen von Technik in Romanen. Aufgefallen ist mir, daß mich in der zweiten Hälfte des Buches kaum noch etwas was den Figuren widerfährt so gefesselt hat, wie in der ersten Hälfte. Spätestens im letzten Drittel übernimmt mehr und mehr die Spannung, wie die vielen einzelnen Fäden des Buches zusammenfinden. Das ähnelt im Guten (Suspense) wie im Schlechten (Sterilität) dem Eindruck, wenn man ein Uhrwerk oder eine Automate beobachtet … anders gesagt: die Programm-Natur, die aller Kunst innewohnt, tritt markant hervor. Das hat mich nur einmal (in der zweiten Hälfte) bei Passagen über die finsternsten Aspekte von Nells Leben gestört. Nell wird von Aufständischen als Spaßsklavin gehalten, sexuell mißbraucht (wie schon in ihrer Kindheit) und mehrfach vergewaltigt - für meinen Geschmack bedient sich Stephenson hier ca. 2 Seiten lang einen zu aseptischen Ton (Kapitel 72, Seite 542). Ist aber heikle Kiste, ich will darüber nicht richten müssen.
Der große Aufhäger von »Diamond Age«, der radikale weltweite Strukturwandel durch die fruchtbare Anwendung von Nanotechnologie in allen erdenklichen Lebens- und Gesellschaftsbelangen, von Energiegewinnung, über Güter-Produktion und Konsumtion, Kommunikation und Informationsverarbeitung ist gut druchdacht. Mir symphatisch dabei, daß Stephenson trotz der vielen extrapolierten Details uns nix vorjubeln will, wie toll das alles doch ist. In seiner facettenreichen Technik-Utopie versteht er es zum Beispiel, das glitzende Zukunftsglück und die faszinierenden Gadgets seiner Welt mit menschlichen Alltagsmiseren und sozialem Elend zu konstrastieren, und sozusagen nebenbei einige der ewigen Menschenprobleme zu behandeln.
Nach »The Diamond Age« vertraue ich Stephenson soweit, daß ich mir »Quicksilver« besorgt habe und mich dort inzwischen hochvergnügt auf Seite 200 tummle. Stephenson hat für ein weinig Irritation sowohl bei SF-Fans als auch im Feuilliton (damit meine ich die nicht nur auf Deutschland beschränkte etablierte allgemeine Literaturkritik) gesorgt, als er ankündigte einen dreiteiligen dickbuchigen Zyklus über die Epoche des Barock zu schreiben, mit Newton, Peyps, Leibnitz und anderen historischen Persönlchkeiten als Romanfiguren, sowie einem Vorfahren des Helden Waterhouse aus »Cryptonomicon« (auch schon keine richtige SF mehr). Das alles begrüße ich als Weg eines Schriftstellers, der sich von Genre-Grenzen oder anderen Betrachtungsschubladen in seinem erzählerischen Fortgang nicht irritieren läßt und seinem Thema in der jeweils besten Umgebung nachgeht … ein Vermittler zwischen verschiedenen Traditionen der Literatur, hochgebildeter Kenner vieler Wissensgebiete und besorgter Beobachter der Zeitläufte. All diese allgemeinen Qualitäten von Stephenson bietet auch »The Diamond Age«. Kann man mehr von einem Buch verlangen?
SPOILER WARNUNG: Wer den Roman noch nicht gelesen hat, möchte diesen Beitrag bitte vorsichtig lesen, ich verrate viel vom Inhalt, was einem die Freud am Buch verderben könnte.
Auszüge und Anmerkungen:
Meine persönlichen Anmerkungen stehen in {geschwungenen} Klammern.
Wohl eine der deutlichsten Reflektion über Form und Stil im Buch findet sich auf
Seite 87: Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Über Öffentlichkeit, Politik und Moral:
Seite 223: »Wissen Sie, als ich ein junger Mann war, galt Scheinheiligkeit als schlimmstes aller Laster«, sagte Finkle-McGraw. »Das lag einzig und allein am moralischen Relativismus. Sehen Sie, in jenem Klima stand es einem nicht zu, andere zu kritisieren - immerhin, wenn es kein absolutes Richtig oder Falsch gibt, welche Basis gäbe es dann für Kritik?« {…}
Seite 224: »Nun, das führte zu einer Menge allgemeiner Frusttration, denn die Menschen sond von Natur aus tadelsüchtig und lieben nichts mehr, als die Unzulänglichkeiten anderer zu kritisieren. Aus diesem Grund stürzten sie sich auf die Scheinheiligkeit und erhoben sie von einer läßlichen Sunde in den Rang der Königin aller Laster. Denn, sehen Sie, selbst es kein Richtig oder Falsch gibt, kann man Gründe finden, einen anderen Menschen zu kritisieren, indem man vergleicht, was er sagt und wie er tatsächlich handelt. In diesem Falle maßt man sich kein Urteil darüber an, ob seine Ansichten oder die Moral seines Verhaltens richtig oder falsch sind — man weißt lediglich darauf hin, daß er etwas predigt, aber etwas anderes tut. In meiner Jugendzeit lief pralktisch der gesamte politische Diskurs darauf hinaus, die Scheinheiligkeit auszurotten.« {…}
Seite 225: »Weil sie scheinheilig waren … wurden die Viktorianer Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts verachtet. Selbstverständlich hatten sich viele Leute, die diesen Standpunkt teilten, selbst des schändlichsten Verhaltens schuldig gemacht, und doch sahen sie kein Paradoxon in ihren Ansichten, da sie selbst nicht scheinheilig waren — sie erhoben keine moralischen Maßstäbe und lebten nach keinen.« / »Demnach waren sie den Viktorianern moralisch überlegen … obwohl — besser gesagt, weil — sie gar keine Moral hatten.«
Tja, welche Lehre läßt sich ziehen aus der Erkenntnis (oder Ansicht), daß Kritik nicht möglich ist, wenn allgemeine Abmachung darüber fehlen, was richtig oder falsch ist, gut oder schlecht? Für meinen Teil will ich mich nicht auf meinen Geschmack als Refugium meiner persönlichen Freiheit zurückziehen, um ansonsten anzunehmen, daß sowas wie die natürliche Fress- und Hackordnung die feine oder bescheidene Position einer ästhetischen Haltung bestimmt.
Schöne Spekulation über den Grund der Sehnsucht nach einer Rückkehr der guten Sitten:
Seite 226: In einer Ära, wo man alles überwachen kann, bleibt uns nichts anderes als die Höflichkeit.
Richter Fang zitiert in Gedanken Konfuzius und läßt damit das große Thema von »The Diamond Age« erklingen. Gar nicht so weit weg von dem, was ich unter Aufklärung verstehe:
Seite 287: Die Alten, welche überall im Königreich erhabene Tugend demonstrieren wollten, brachten zuerst ihr eigenes Dasein in Ordnung. Im Wunsch, ihr eigenes Dasein in Ordnung zu bringen, reglementierten sie zuerst ihre Familien. In dem Wunsch, ihre Familien zu reglementieren, kultivierten sie als erstes ihre Persönlichkeit. In dem Wunsch, ihre Persönlichkeit zu kultivieren, korrgierten sie zuerst ihr Herz. In dem Wunsch, ihr Herz zu korrigieren, trachteten sie als erstes danach, aufrichtigen Denkens zu sein. In dem Wunsch, aufrichtigen Denkens zu sein, erwarben sie als erstes höchstes Wissen. Dieser Erwerb höchsten Wissens lag in der Untersuchung von Dingen … Vom Sohn des Himmels bis hinab zur Masse des Wolkes müssen alle die Kultivierung ihrer Persönlichkeit als Wurzel für alles andere betrachten.
Über die Auflösung der Nationalstaaten. Wir leben meiner Ansicht nach ja derzeit in der Phase, wo sie sich noch heftig in Todeskrämpfen winden.
Seite 317: Carl Hoillywood: »Das Mediennetz wurde von Grund auf konstruiert, um Privatsphäre und Sicherheit zu gewährleisten, damit die Leute es auch für Geldtransfers benutzen konnten. Das ist ein Grund, weswegen die Nationalstaaten zerfallen sind — sobald das Mediennetz errichtet war, konnten die Regierungen finanzielle Transaktionen nicht mehr überwachen, und das Steuersystem wurde hinfällig.«
Das Mediennetz in dem Buch ist eine Weiterentwicklung des Internets von heute. So unterscheidet man zwischen klassischen (oder altmodischen) Passiven, womit Filme wie wir sie kennen gemeint sind, und Raktiven, vergleichbar den Star Trek-Holodecks, also Live-Rollenspiel in einem komponierten Narrationsgitter. Siehe auch: die Macher von »Deus Ex« sprechen bei den Levels ihres PC-Spiels von Möglichkeitsräumen.
Beste »Dracula«-Empfindsamkeit und Zurückhaltung. »Dracula« von Bram Stoker kann man getrost als einen Schlüsselroman der Viktorianischen Epoche bezeichnen, und es überrascht mich also nicht, hier Spuren seines emotionellen Taktes wiederzufinden.
Seite 336: Gwendoline Hackworth: »Mein Mann schreibt mir jede Woche Briefe, aber sie sind überaus allgemein gehalten, unverbindlich und oberflächlich. In den letzten Monaten tauchen immer mehr befremdliche Bilder und Emotionen in diesen Briefen auf. Sind sind - bizarr. Ich fürchte um die geistige Stabilität meines Mannes und um die Aussichten eines jeden Unterfangens, das von seinem Urteilsvermögen abhängen könnte.«
Über Sinnvermittlung.
Seite 351: Mr. Beck: »Lästige Unterscheidungen interessieren mich nicht. Ich interessiere mich nur für eines … und das ist der Einsatz von Technologie, um Sinn zu vermitteln.« Zumindest vom anglo-amerikanischen Narrationstzerrain weiß ich (oder habe den Eindruck), daß dort das Motiv vom aus dem Unter- oder Hintergrund agierenden Aufkläreren verbreiteter ist, als in Deutschland … hierzulande ehr anrüchiig und bisweilen ein Tabu, kann aber auch sein, daß ich diesbezüglich leicht paranoid bin.
Weitere Passage zu der Spannung zwischen Ethik und Technik.
Seite 384: Der Vatikan hatte eine große Zahl ernster ethischer Vorbehalte gegen die Nanotechnologie, aber schoießlich hatte man sich darauf geeinigt, daß sie okey war, wenn nicht mit der DNS herumgespielt oder direkte Schnittstellen mit dem menschlichen Gehirn geschaffen wurden.
Die beschriebene Ansicht empfinde ich als sehr richtig. Ich kann die vorauseilende Bereitschaft von Zeitgenossen zum Einbau von Hirnbuchsen (oder sonstiger Schnittstellen zwischen Hirn und Technik) nicht nachvollziehen.
Weiteres zu Moral, inzwischen von Hauptfigur Nell selbst.
Seite 410: »Ich glaube, ich bin endlich dahintergekommen, was Sie mir vor Jahren sagen wollten, über die Notwendigkeit, intelligent zu sein. {…} Die Vickys {= Neo-Viktorianer} haben einen komplizierten Moral- und Verhaltenskodex. Er entstand aufgrund der moralischen Verkommenheit einer früheren Generation, genau wie den ursprünglichen Viktorianiern die Gregorianer und die Regentschaft vorausgegangen sind. Die alte Garde glaubt an diesen Kodex, weil sie durch Schaden klug geworden sind. Sie erziehen ihre Kinder dazu, den Kodex zu respektieren - aber ihre Kinder glauben aus gänzlich anderen Grunden daran. {…} Einige stellen ihn niemals in Frage - sie wachsen zu kleingeistigen Menschen heran, die sagen können, was sie glauben, aber nicht, warum. Andere, desillusioniert die Scheinheiligkeit der Gesellschaft, und sie rebellieren.« / »Für welchen Weg entscheidest du dich, Nell?«, fragte der Constable … »Konformismus oder Rebellion?« / »Weder noch. Beide sind ein wenig schlicht - sie sind nur für Menschen, die nicht mit Widersprüchen und Zweideutigkeit fertig werden.«
Ein Buch des von mir wertgeschätzten Umberto Eco aus den Jahren 1964/1978 heißt »Apokalyptiker und Intergierte - Zur kritischen Kritik der Massenkultur«, in dem es bisweilen um die gleichen Dinge geht, wie bei Stephenson … nur nicht mit soviel Spezial FX natürlich.
Die Neo-Viktorianer wollen mehr Künstler in ihrer Gesellschaft.
Seite 421: Dividenden-Lord Finkle-McGraw fragt Carl Hollywood: »Glauben Sie, wir ermutigen unsere eigenen Kinder nicht genug, sich den Künsten zuzuwenden, oder sind wir für Männer ihres Schlages nicht anziehend genug, oder beides?« / »Bei allem gebührenden respekt, Euer Gnaden, bin ich mit Ihrer Prämisse nicht unbedingt einverstanden. New Atlantis kann auf zahlreiche bedeutende Künstler zurückgreifen.« / »Ach kommen Sie. Warum kommen sie denn alle von außerhalb des Stamms wie Sie selbst? Im Ernst, Mr. Hollywood, hätten Sie den Eid überhaupt abgelegt, wenn es aufgrund Ihrer Tätigkeit als Theaterpriduzent nicht von Vorteil für Sie gewesen wäre? {…} Es kommt Ihnen gut zupaß, weil Sie inzwischen ein gewissen Alter erreicht haben. Sie sind ein erfolgreicher und etablierter Künstler. Das unstete Leben eines Bohemiens kann Ihnen nichts mehr bieten. Aber hätten Sie Ihre derzeitige Position erreicht, wenn Sie dieses Leben nicht früher geführt hätten?« / »Jetzt, wo Sie es so ausdrücken … stimme ich zu, daß wir versuchen könnten, in Zukunft gewisse Vorkehrungen zu treffen, für junge Bohemiens — « / »Das würde nicht funktionieren … darüber denke ich schon seit Jahren nach. Ich hatte denselben Einfall: eine Art Freizeitpark für junge künstlerische Bohemiens einzurichten, in allen Städten verstreut, damit junge Atlanter mit entsprechenden Neigungen sich versammeln und subversiv sein können, falls ihnen danach zu mute ist. Aber die Vorstellung allein ist ein Widerspruch in sich, Mr. Hollywod, ich habe im vergangenen Jahrzehnt oder so viel Mühe darauf verwandt, das Subversive systematisch zu ermutigen.«
Denn:
Seite 421: »… darin liegt die Daseinsberechtigung eines Dividenden-Lords - die Interessen der gesamten Gesellschaft im Blick zu haben, anstatt die eigene Firma zu melken oder was immer.«
Angesichts der Politiker-, Manager- und Beraterskandale hierzulande (aber auch anderswo) spricht mich zumindest diese Passage sehr an. Leben wir wirklich noch in einer primitiven Zeit, in der jeder (und vor allem die Mächtigen, alle mit ›Gelegenheit‹) nur den eigenen Beutel füllt, oder verstehe ich kleiner Fuzzi die Handlungen der Mächtigen und Reichen nicht, die sich durchaus im Sinne der Weltgemeinschaft Sorgen und entsprechend agieren?
Teil einer »So ist der Lauf der Welt«-Rede von Madame Ping zu Nell.
Seite 429: »Im Grunde genommen gibt es nur zwei Industriezweige. Das ist immer so gewesen. {…} Die Industrie der Sachen und die Industrie der Unterhaltung. Die Industrie der Sachen kommt zuerst. Sie hält uns am Leben. Aber heutzutage, wo wir den Feeder haben, ist es nicht mehr schwer, Sachen zu machen. Es ist keine besonders interessante Branche mehr. / Wenn die Menschen alles haben, was sie zum Leben brauchen, ist der Rest nur noch Unterhaltung. Alles.«
Interessant wie sich diese Passage mit der Aussage von Mr. Beck im Auszug von Seite 351 reibt, denn Mr. Beck geht es primär um die Vermittlung von Sinn. Sinn taucht bei Madame Ping aber nicht auf, außer weitläufig im Bereich der Sachen, so wie Lebensmittel sinnvoll sind, wenn man hungerig ist.
Nell denkt über ihre Arbeit (Design von Raktiven) nach.
Seite 464: Seit frühester Kindheit erfand sie Geschichten und erzählte sie der Fibel, und nicht selten wurden sie verarbeitet und in die Geschichten der Fibel eingegliedert. Für Nell war es ganz natürlich, dieselbe Arbeit für madame Ping zu tun. Aber nun hatte ihre Chefin von einer Darbietung gesprochen, und Nell mußte gestehen, daß es in gewissem Sinne eine war. Ihre Geschichten wurden verarbeitet, zwar nicht von der Fibel, sondern von einem anderen Menschen, und so wurden so Bestandteil des Denkens dieser anderen Person. / Das schien durchaus einfach zu sein, aber die Vorstellung beunruhigte sie aus einem Grund, der ihr erst bewußt wurde, als sie mehrere Stunden im Halbschlag darüber nachgedacht hatte.
Wohl jeder angehende oder etablierte Autor (oder allgemein Künstler/Unterhalter) hat sich darüber schon mal den Kopf zerbrochen … oder sollte es zumindest. Will ich nur unterhalten, will ich Sinn vermitteln, Trost spenden (siehe Tolkien), Sozialkritik üben? usw.
ZUGABE: Schmankerl:
Ha, ein deutsches Wort im Original (ROK-Taschebuchausgabe).
Seite 337: »It didn't matter which brain a {Nano}´site was in. The all talked to one another indiscriminately, forming a network. Get some Drummers together in a dark room, and they become a gestalt society.«
Übersetzt (wieder ausm Goldmann-Tachenbuch).
Seite 389: »Es spielte keine Rolle, in welchem Gehirn sich die ´siten befanden. Sie redeten alle gleichwertig miteinander und bildeten eine Art Netz. Pferchen Sie ein paar Tromler in einem dunklem Raum zusammen, und sie werden zu einer Gestaltgesellschaft.«
Habe laut gelacht bei folgendem Satz.
Seite 375: Er sollte besser von hier verschwinden, bevor er wieder Sex mit jemanden hatte, den er nicht kannte.
Wirklich lustiger Schnitzer — naja — mangelndes Fingerspitzengefühl von Joachim Körber. Mannbarkeit wird von ihm ernsthaft auf eine Vertreterin des weiblichen Geschlechtes angewendet.
Seite 380: Die Mannbarkeit hatte ihr jede Menge Merkmale verliehen, die die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts und von Frauen mit entsprechenden Neigungen auf sich zogen.
Zum Vergleich die gleiche Stelle im Original:
Seite 329: Maturity had given her any number of features that would draw the attention of the opposite sex, and of women so inclined.
Geiler historischer Fachbegriff des 21. Jahrhunderts bezüglich der Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts:
Seite 443: Elizabethanische Atombomben.
Bumm und Ende.
Donnerstag, 22. April 2004
Hitler-Geburtstag als Journaillen-Fetisch
Eintrag No. 94 — Betrifft die Lesung von Thor Kunkel am 20 April 2004 im Poeltzig-Bau (so die richtige heutige Bezeichnung) der Universität Frankfurt.
Ich habe es gewußt, daß einige Autoren der öffentlichen Kulturrezeption ihre juckenden Finger nicht zu zügeln vermögen, wenn sie auf dunkle Zeichen oder hintersinnige Zusammenhänge aufmerksam machen können.
Der 20. April - ein Schwarzes Loch im Kalender, Gröfaz aus dem Uterus als Singularität die alles verfinstert, was an diesem Tag getan (oder dann doch besser unterlassen) wird. Ist der 20. April ein Feier- oder Gedenktag der Bundesrepublik? Meines wissens nach nicht, aber vielleicht ist er ein geheimes, ein invertiertes Jubiläum.
Von mir darf ich mit aller Bescheidenheit behaupten origineller und neugieriger reagiert zu haben, als ich nach Kenntnisnahme der Führer-Versautheit des Datums mal bei wissen.de nachschaute, wer denn noch alles Geburtstag an diesem Apriltag hat. Was soll ich sagen: müssen sich Brigite Mira und Jasmin »Blümchen« Wagner (Achtung! Nachname eines bekannten Antisemiten) an ihrem eigenen Geburtstag schämen? Dürfen Science-Fiction-Fans diesen Tag nicht als Geburtstag des Pioniers Kurd Laßwitz feiern? Und was ist mit Napoleon III, Harold Lloyd, Pietro Aretino, Jean Miro, Sir Eliot Gadiner, Karl I von Rumänien, der Heiligen Rosa von Lima und all den anderen (insgesamt 54) Personen, die, wie es der Zufall will, auch an Bad Adolfs Geburtstag geboren wurden, sei es vor oder nach ihm?
Nein meine lieben Journalisten, als jemand, der den Stress eures professionellen Schreibenmüssens nicht teilt und die Welt entsprechend unparanoider betrachten kann, muß ich tadeln: so geht das nicht.
Frankfurter Rundschau: »…weil Kunkel im ehemaligen IG Farben-Haus las und das auf den Tag genau 115 Jahre nach Adolf Hitlers Geburt.«
Perlentaucher (Referenz auf FR-Beitrag): »…als Thor Kunkel vorgestern (am 20. April!) im IG-Farben-Haus…«
Wobei ich sagen muß, daß der FR-Beitrag nicht halb so gehässig ist, wie der Bericht der F.A.Z.
F.A.Z.: »…dem 20. April, einem Datum, das für die Festkultur im Dritten Reich eine wichtige Rolle spielte (und für manche heute noch spielt): An Adolf Hitlers Geburtstag also las Kunkel…«
Der Autor verliert hier auffällig viel Worte über diesen Zufall, muß nicht nur auf das Datum hinweisen, sondern auf den Nimbus, die negaitive Heiligkeit desselben beschwören. Ist das nötig? Muß hier ein etwa ein Gedenken aufrechterhalten, verteidigt werden?
Außerdem bezeichnet Herr (oder Frau) rik in seinem F.A.Z.-Beitrag alle Anwesenden der Lesung als Ahnungslose (weil keiner gegen Kunkel protestiert). Na, wer urteilt, schmeißt da wahllos und undifferenziert eine Leutegruppe in einen Topf? Ich zumindest kann hiermit meine Empörung über diese auch mich betreffende Titulierung äußern, Frau (oder Herr) rik, denn 1972 geboren, habe ich die Geschichte des III. Reiches und der Shoa eben auch nur erlernen können. Vielleicht werden ja Angehörige anderer Gesellschaftsschichten mit geheimen teuren Zeitmaschinen in die Lage der Zeitzeugenschaft versetzt. Herr rik, dokumentiert zudem erst die (kritische) Nachfrage des Moderators, um dann einige Zeilen später zu schreiben, der Abend sei unkritisch verlaufen. Auch kann nicht nicht davon die Rede sein, Herr Kunkel habe sich inzeniert, er tat dies sogar weniger, als rik in seinem Beitrag im Nachhinein die Lesung darstellt.
Ich für meine Person als Leser möchte betonen, daß ich die Verbrechen des III. Reiches nicht leugne, ja, sie sind eine Singularität an Menschenverachtung und Wahnsinn und sie verursachen heute noch viel Schmerz in den Seelen der Überlebenden dieser Zeit und aller Nachgeborenen, deren Familiengeschichte davon berührt ist. Wenn ich mir ein heutiges Deutschland in einem Alternativwelt-Europa vorstelle, das weder Hitler noch die Nazis erlebt hat, das keine Judenausrottung und Vernichtung sonstigen unwerten Randgruppen-Lebens ertragen mußte, und wenn ich dieses Alternativwelt-Deutschland mit unserem tatsächlichen heutigen vergleiche, fühle ich den Schmerz des Verlustes, zum Beuspiel darüber, daß uns heute ein etabliertes jüdisches Bürgertum mit seinem Geisteswitz fehlt, daß uns heutigen Deutschen unerträglich viele der hervorragensten Köpfe (und Herzen) fehlen, die vernichtet oder vertrieben wurden.
Trotzdem kann ich mich mit diesem Schmerz vergnügen, wenn Kunkel seine nach präpubertären Kalauer miefenden derben Scherze mit der vermeitlichen Elite z.B. der SS oder der NS-Wissenschaft treibt. Zugegeben: Chaplin hat das in »Der Große Diktator« mit dem aus den Fenster springenden Raketentestern knapper und eleganter gemacht. - Kunkel hat wohl zu hoch gepokert, als er glaubte, daß man diesen Schmerz soweit angenommen hat, daß nicht jedesmal verletzt oder paranoid aufgebrüllt werden muß, wenn eine fiktionale Narration Dissonanzen zumutet. Als lustige Zeichnung bei Walter Moers mögen solche Scherze noch angehen, als reiner Text ist es anscheinend zu schwer, die Feinheiten groben Nazi-Porno-Trash zu erkennen. (Meine Entschuldigung an Herrn Moers - falls Sie das hier lesen und sich unangenehm platziert fühlen, wieder mal herhalten müssen, so als anerkannter Grenz- und Tabuüberschreiter.)
Man kann Kunkel mit aller Berechtigung vorwerfen, daß er einen ätzenden, bisweilen extrem geschmacklosen Humor pflegt. Eine Dauer-Verfremdung durch unerträgliche Sprachartistik, in der die Nicht-Provokation scheinbar Aussnahme bleibt.
Ein Herr aus dem Publikum der IG-Farben-Haus-Gröfaz-Jubiläums-Lesung hat es aber ganz richtig erfaßt:
»Das ist eine Satire auf das III. Reich.«
Spontaner Applaus des ahnungslosen Publikums.
Darüber hat niemand geschrieben und es findet sich bei den Berufsschreibern auch niemand, der es für seine Sache hält, den (zugegeben grenzwertigen) Humor in Kunkels Darstellung von kranken, pathologisch mitleidsunfähigen Triebdeppen zu verteidigen. Auch gut, machs ich das halt.
Ach übrigens: Von den bisher berichtent habenden Journalisten war niemand so fleißig, mal Veranstalter oder Verlag zu fragen, wie es zum Ungeschick des Datums kam. Wie kleine Dr. Watsons ziehen sie lieber die Schlüße, die ihre Bildung und Fixierung zulassen. Nehmt entsprechend diese meinen Einspruch auf eure Deutungshoheit entgegen.
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Weitere Molochronik-Einträge zu Thor Kunkel und seinen Roman »Endstufe«:
• Verlag mag nicht
• Skribbel für Thor Kunkel
• Die Welt durch die Brille von Kultur-Gonzos : Die Nazi-Mädels vom Kulturzentrum der Universität Frankfurt
• Wahnwellenversprengtes Denken aufgrund Melange aus literarischer Inkompentenz und mieser Profilierungspraxis
Mittwoch, 21. April 2004
Montag, 29. März 2004
Matt Ruff: »Set This House In Order«
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Eintrag No. 92 — Andrea war die letzten Tage auf der Leipziger Buchmesse. Eine Frage an den Hanser Verlag gab ich ihr mit auf die Reise:
— Wann kommt das neue Buch von Matt Ruff auf Deutsch heraus?
— Im Herbst 2004, antwortete Hanser.
Wie ich vermutet habe, läßt der Hanser Verlag der Übersetzung des dritten Buches von Matt Ruff angemessen Zeit (ca. 18 Monate). Wie die ersten zwei Romane »Fool On The Hill« und »Die Trilogie der Stadtwerke« locker und leicht zu lesen, bietet auch »Set This House In Order« eine waghalsige Geschichte … wenn auch nicht so ganz so reich an Nebenhandlungen und im guten Sinne durcheinander, wie seine beiden Vorgänger.
Eine Gelegenheit also, einen der besten spekulativen Autoren der Gegenwart neu anzugehen, wenn einem seine bisherigen Romane zu voll, zu bunt und zu wild waren. Ich habe ja deutsche Rezensionen der »Trilogie der Stadtwerke« gelesen, die sich beschwerten, der Roman habe zu viele Ideen, die ja mindestens für zwei Bücher reichten. Erinnert mich an Leopold und Mozart im Film Amadeus:
»Zuviele Noten, streichens a paar raus, und die Sache ist perfekt«
Als ich »Set This House In Order« im Frühjahr 2003 im Original las, begeisterte mich am meisten, daß Matt Ruff hier das neue Genre der Psycho-Fantasy erfunden hat, oder eine in der Gegenwart angesiedelte Psychologie-Science-Fiction. Keine Elfen, keine denkenden, sprechenden Tiere, keine Roboter oder Künstlichen Intelligenzen, keine offensichtlichen Phantastik-Requisiten und -Figuren liefern den Hintergrund für »Set This House In Order«, sondern die Erkenntnisse und Spekulationen der modernen Bewußtseins- und Persönlichkeitsforschung sind der Keim einer auf den ersten Blick nicht als Phantastik erkennbaren Idee.
Folgend nun eine grobe Übersetzung des Originalklappentextes, damit ich nicht Gefahr laufe zu viel zu verraten, und dennoch denen etwas bieten kann, die das Warten auf den neuen Ruff auf Deutsch kaum noch aushalten.
»Der Autor des Kultbuches Fool On The Hill erzählt uns eine seltsame und bewegende Geschichte einer Selbsterkundung. Vor zwei Jahren erst wurde Andy Gage gebohren, ins Leben gerufen um als Gesicht für die Umwelt einer multiplen Persönlichkeit zu dienen. Andy kümmert sich um die Außenwelt, während sich in seinem Kopf über 100 Seelen ein imaginäres Haus teilen und darum ringen ein friedliches Miteinander aufrechtzuerhalten: Aaron die Vaterfigur, der die Regeln macht; Adam der übermütige Teenager, der die Regeln bricht; Jake der verschreckte kleine Junge; Tante Sam die Künstlerin; Seferis der Beschützer; und Gideon die dunkle Seele, der Andy und die anderen loswerden möchte, um allein die Dinge in die Hand zu nehmen.
Andrews neue Arbeitskollegin Penny Driver ist ebenfalls eine multiple Persönlichkeit - ein Umstand, dessen sich Penny nur zum Teil bewußt ist. Als mehrere andere Seelen von Penny Andy um Hilfe bitten und der widerstrebend einwillgt, lößt das eine Folge von Ereignissen aus, die drohen, die Stabilität des Hauses zu zerstören. Andy und Penny müßen nun zusammenhalten um ein schreckliches Geheimnis zu lüften, daß Andy vor sich selbst verheimlicht hat…«
»Set This House In Order – A Romance of Souls«; HarperCollins 2003, 479 S. - Deutsch bei Hanser im Herbst 2004, wahrscheinlich wieder hervorragend übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini.
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DRAMATIS PERSONAE
zu Matt Ruffs »Set This House In Order« / »Ich und die anderen«
- Die Hausbewohner:
- Andy Gage: *1965; zerbrach in sieben Seelensplitter, von denen nur zwei überlebt haben.
- Aaron: der Hausbauer; Bruder von Gideon; Vater von Andrew; einer der sieben Splitter Andys.
- Gideon: Exilant auf Coventry Island; Bruder von Aaron; Vater von Adam; einer der sieben Splitter Andys.
- Andrew: (26), von Aaron aus dem See gerufen, um dessen Job zu vollenden: Bring das Haus in Ordnung; Tagespersönlichkeit für den Umgang mit der Außenwelt.
- Jake: (5) ängstlicher Junge; ging aus Jacob (gestorben 1973) hervor.
- Tante Sam(anta): Künstlerin.
- Seferis: riesenhafter Leibwächter.
- Adam: (15), mag Playboy, Alk und derbe Sprüche; natürlicher Lügendetektor.
- Silent Joe: eine von Aarons Helferseelen; begräbt die Toten auf dem Kürbisfeld.
- Captain Marco: eine von Aarons Helferseelen; kümmert sich um den See; Fährmann.
- Xavier Rayes: Ein Werkzeug.
- weitere Seelen: Simon (macht sich Sorgen um Justiz und Sicherheit); Drew, Alexander, Angel, Annis, Arthur, Rhea, Sander, Archie, Seth, die zwei Samuels, und an die hundert weitere kleine Zeugen-Seelen.
- Die Gesellschaft:
- Penny Driver: *1971; weiß nicht, daß sie eine Gesellschaft von Seelen in sich hat.
- Mouse: Pennys Spitzname von Mutter; auch: »worthless peace of shit«; kein Selbstwertgefühl und großer Feigling.
- Maledicta: Evil-Speaker, Wächterin, Raucherin, mag Pool und Alk, Zwilling von Maleficia.
- Maleficia: Evil-Doer, Wächterin, stummer Zwilling von Maledicta.
- Navigator: sorgt für Pennys Orientierung.
- Drone: macht was man ihr sagt, spührt nix.
- Loins: mag die Rolling Stones und Pornos; lebt in einer Grotte.
- Brain: das Genie, arbeitet als Programmierer und Techniker.
- Thread aka Penelope Ariadne Jones: zuerst Pennys Brieffreundin über die Englisch Society of International Correspondence; führt Tagebuch.
- Duncan: der Fahrer, immer nüchtern; achtet auch darauf, daß die anderen Seelen nicht so sehr über die Stränge schlagen.
- Zwei stumme Fluchtseelen, davon einer ein Sprinter; vielleicht identisch mit bereits angeführten Seelen.
- Reality Factory:
- Julie Sivik: * 1971, Chefin von Reality Factory und gute Freundin von Andy seit 1994.
- Irvin Manciple: aus Alaska; stiller und zurückhaltener Techniker; Bruder von Dennis.
- Dennis Manciple: aus Alaska; dickleibig und expressiv; ihm ist schnell zu warm; Programmierer; Bruder von Irvin.
- Weitere Personen:
- Horace Rollins: Andys Stiefvater, der Plünderer.
- Silas Gage: Leiblicher Vater von Andy Gage; ertrunken.
- Althea Gage: Andys Mutter.
- Mr. Cavinet: Tante Sams Französisch-Lehrer auf der High School; erster freundlicher Erwachsener gegenüber Andy Gage.
- Mr. Weeks: Vorgesetzter bei Bit Warehouse, wo Aaron/Andrew vor der Reality Factory arbeiteten.
- Oscar Rayes: Ungeziefer-Beseitiger und Anwalt in Seven Lakes.
- James (Jimmy) Cahill: Früher bei der Armee, jetzt Polizist in Seven Lakes.
- Gordon Bradley: Polizeichef in Seven Lakes.
- Kirstin Williams: Babysitterin für Andy in der Grade School-Zeit.
- Verna (Dorset) Driver: Pennys sadistische Mutter aus Woods Basin (= Trash Town).
- Morgan Driver: Pennys Vater; Versicherungsvertreter, starb 1973 bei einem Flugzeugunglück.
- Großmutter Driver: schenkte Penny eine Underwood-Schreibmaschine und ein Kleid.
- Ben Deering, Chris Cheney, Scott Welch, Cindy Wheaton: Zusammen mit Penny auf der Junior High School.
- Ben Deering Senior: Bens Vater, Schrottplatzbesitzer aus Trash Town.
- Rudy Krenzel: Besitzer von Rudys Quick Fix, wo Penny arbeitete vor Realiry Factory.
- George Lamb: Wohnt in einem Trailer.
- Alyssa Geller: Zimmergenossin von Penny an der University of Washington im ersten Semester.
- Mr. Filchenko: Mitarbeiter des Bestattungsinstitutes Archangel.
- Mrs. Alice Winslow: hat Aaron als Mieter aufgeommen; Witwe, deren Mann und zwei Söhne von einem trampenden Mörder umgebracht wurden.
- ein namenloser Mörder-Tramp: Ermordete 1985 Mr. Winslow und seine beiden Söhne; schrieb bis 1990 Briefe und Postkarten an Mrs. Winslow.
- Warren Lodge, der Puma: Aus den Nachrichten.
- Dr. Danielle Grey: Psychatierin von Aaron; seit Herzattake im Januar 1995 im Ruhestand in Seattle; auf Rollstuhl angewiesen.
- Meredith Cantrell: Lebensgefährtin und seit Herzattake Pflegerin von Dr. Danielle Grey.
- Dr. Eddignton: Psychiater in Seattle; Übernimmt die Patienten von Dr. Danielle Grey; sieht Pennys Vater sehr ähnlich.
- Dr. Kroft: Westküsten-Psychiater, stellte 1987 MDP-Diagnose bei Andy Gage der sie 4 Jahre behandelt hat; Anhänger der Vasen-Theorie; hat Andy ein zweites Mal in Verwahrung eingewiesen.
- Dr. Bruno (Reinkarnation), Dr. Whitey (Außerirdische), Dr. Leopold (Rechtsweg): Weitere Westküsten-Psychiater mit denen Aaron nach Dr, Kroft und vor Dr. Grey Erfahrungen machte (´91-´92); alles Anhägner der Vasen-Theorie; in Klammern die jeweils speziellen Theorien dieser Ärzte.
- Billy Milligan: In den Medien bekannt gewordener MPD-Patient. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Cornelia Wilbur: Autorin von »Sybil«. – Mensch der realen Welt außerhalb des Buches.
- Erwähnt wird William Seferis: Autor von »Tales of the Greek Heroes«.
- Onkel Arnie: Julies Onkel beim Militär; macht Geschäfte mit vom Laster gefallenen Waren.
- Reggie Beauchamp: Automachaniker und Truckfahrer; Bettfreund von Julie 1995/96.
- Sowie:
- ein namenloser böser Vater mit seiner kleinen Tochter im Harvest Moon.
- eine Vampir-Thekenfrau der Bridge Street Bar.
- ein Verkehrspolizist in Wyoming.
- ein Hotelmanager von House of Pancakes nahe der Badlands Parks.
- Barmann (Ming) und Betrunkener (Flash Gordon) des Mammoth in South Dakota.
- Charles Daikos: Ein Lieferwagenfahrer.
- Mortimer: Polizist in Seven Lakes.
- Dave Bradley: Truckfahrer in Seven Lakes.
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Kapitelstruktur
Samstag, 27. März 2004