Eintrag No. 641 — Nicht lange rumlgelabert. Hier die dieswöchigen Links.
NETZFUNDE
Peter Sloterdijk, den manchen ja nur für einen bedenklichen Dampfplauderer halten, dessen Bücher mir aber großes Vergnügen bereiten, hat in »Der Welt« ein Interview gegeben: »Wir leben in einer Frivolitätsepoche«. Interessant ist, dass Sloterdijk dieses Gespräch dazu nutzt, irrige Interpretationen zu Äßerungen von ihm aus dem letzten Jahr zu relativieren. Sloterdijk hatte (flappsig umschrieben) in der jüngsten Vergangenheit vom verbrecherischen Akt erster Aneignungen und dem Steuerstaat als großen etablierten Dieb von Privatvermögen gesprochen und schließlich davon, dass es wünschenwert wäre, man käme weg von einer Zwangsabgabe hin zu einer neuen Kultur des Mäzenatentums und Spendens. Jetzt nun sagt er deutlich, dass der Staat sich durch irrationale Wirtschaftsideologien entmächtigen ließ, in der Finanzkrise aber wieder als einziger Milliardär der importiert rettend auftreten dürfe.
Othmar Keel lieferte für die »NZZ« einen Essay über die tierischen Ursprünge der Engel: Unheilabwendende Schlangen und geflügelte Löwen. Lustig, wie kurz skizziert wird, wie aus Schlangen (griechisch: ›seraphis‹) kleine nackte Bürschchen werden (römische Eros-Figuren).
Endlich: das Prospekt zum gesetzten »Zettel’s Traum« von Arno Schmidt als PDF. Auch wenn ich fürchte, dass ich kaum Zeit haben werde, mich ab Herbst dem Monsterschmöker mit gebührender Hingabe zu widmen, freue ich mich schon darauf, mir das Teil endlich ins Regal zu stellen und damit meine Schmidt-Werksausgabe zu kompletieren.
Auf dem letzten Comic-Con saßen J. J. Abrams und Joss Wheadon (Teil 1 von 7) gemeinsam auf dem Podium und beantworteten Fragen zum Thema Geschichtenerzäheln. Höhepunkte: Joss wuppt Maximal-Komplimente in Richtung J. J. für dessen »Star Trek«-Film. — J. J. fällt schockiert in sich zusammen, als Joss erklärt, dass er beim Drehbücherschreiben ohne Überarbeitung auskommt.
(Deutschsprachige) PHANTASTIK-FUNDE
Zufällig entdeckt, dass Georg Seeßlen seit einem guten Jahr unter die Blogger gegangen ist. Seeßlen schreibt sonst sehr gute Filmrezis für die großen Feuilletons, und ist mir seit langer Zeit als Sachbuchautor bekannt (legendär z.B. sein »Lexikon der Unterhaltungsindustrie« aus den Siebzigern). Sein Blog hat den ›verstörenden‹ Titel Das Schönste an Deutschland ist die Autobahn, und entdeckt habe ich es über den Eintrag CONTRA NATURAM: oder Die Weltordnung und das Wunder, einem gehaltvollen Kurzessay zum Thema Phantastik, Fantasy und Weltbilder.
Entdeckt habe ich das PDF-Magazin von Literaturzirkel. Monatlich reichlich Rezis, Schwerpunkt zwar auf Phantastik, aber immer wieder auch zu literarischen Titeln. Werd ich im Auge behalten.
In der »NZZ« erschien am 29. Juli eine unterhaltsam zu lesende Rezi von Leopold Federmair zum zweiten Borges & Casares-Band der neuen Hanser-Werkaushabe (ich habe die Fischer-Taschenbuchausgabe der Erstauflage): Dumme Detektive. Vor allem stimme ich dem Lob zur Anmerkungs-Poetik von Gisbert Haefs zu.
›Thomas Sch‹ hat für »Roter Dorn« eine Rezi »Die Zimtläden« von Bruno Schulz (dtv-Taschenbuchausgabe der Neuübersetzung bei Hanser) geschrieben.
Sehr gefreut habe ich mich über Oliver Kotowskis Rezi bei »Fantasyguide« zu dem schmalen aber feinem Büchlein »Die Erscheinungen im Weißen Hotel« von Herbert Rosendorfer (Text) und Fabius von Gugel (Illustrationen). Leider gibt es im Internet kaum Bilder des 2000 verstorbenen Phantastik-Künstlers Fabius von Gugel zu sehen. Ich hatte vor Jahren das Glück, den Bildband »Das graphische Werk« aus dem DuMont-Verlag günstig zu bekommen. Tja deutsche Phantastik-Feinschmecker, stöbert herum und lernt von Gugel kennen!!!
Für die »Literarische Welt« schrieb Elmar Krekeler eine Empfehlung zu »Handbuch der Detektive« von Jedediah Berrys. (Ich selbst bin, aus Mangel an Kenntnis des Werkes von Tschechow, ein Borgesianer). Dank an Oliver Naujoks für den Hinweis!
Bescheidgeb: Hier gehts zum PDF vom Fandom Observer No. 254; enthält unter anderem eine Rezi zu Dan Simmons »Drood«.
ZUCKERL
Der ›Narr im Wald‹ berichtet von seiner Begeisterung für die Collage-Romane von Max Ernst: Drive-In Saturday: Ernst Enough For Us. Viele Links, unter anderem zu …
… dem Künstler Dan Hiller, der die Tradition von Max Ernst weiterführt, speziell für alle heutigen Fans von Belle Epoche-Klamotten tragenden Hybrid-Wesen. In seinen Gallerien gibt es z. B. einen Vogelgentlemen mit hutlüpfendem Hut; — einen Waldgeist in blauer Nass in Nass-Technik; — und ganz blöd zusammengewachsene siamesische Brüder.
Eintrag No. 640 — Christopher Nolan ist sicherlich einer der interessantesten Filmemacher derzeit. Sein »Memento« hat mich mit seinem Rückwärtserzähl-Kniff beeindruckt; seine beiden Batman-Filme »Batman Begins« und »The Dark Knight« haben gezeigt, dass Superhelden-Flicks mit Anspruch möglich und auch dem Publikum auch willkommen sind, und die Literaturverfilmung »The Prestige« (nach einem Roman von Christopher Priest) gehört für mich zu den besten Filmen des neuen Jahrtausends, ja zu meinem Allzeit-Lieblingsfilmen überhaupt. — Nun hat es »Inception« geschafft, dass ich mich wieder einmal aufraffe, eine Filmrezi zu schreiben.
»Inception«Die gute Nachricht: nach einer mir schon endlos erscheinenden Reihe bestenfalls mittelmäßiger Phantastik-Filme (»Iron Man 2«, »Prince of Persia«, »Clash of the Titans«) liefert »Inception« endlich wieder Gehirnstürm mit Tiefengang. Ein meisterlich inszenierter und gespielter Film, bei dem Drama, gewagter Weltenbau und handwerkliche Brillanz Hand in Hand gehen. »Inception« ist ein Film, der es wert ist, dass man ihn im Kino guckt.
Vorsicht, massive SPOILER: Die Science Fiction-Phantastik nimmt nur einen bescheidenen Platz als Ermöglichungs-Gadget für die Handlung des Filmes ein. Sie liefert technische Instrumente, ursprünglich von der Armee als Simulations-Werkzeug entwickelt, mit denen mehrere Personen gemeinsame Träume erleben können. Leonardo di Caprio spielt den Meisterdieb Cobb, der sich darauf spezialisiert hat, aus den Träumen (sprich: dem Unterbewußtsein) seiner Opfer geheime Infos zu klauen. Industriespionage a la Morpheus sozusagen. Ein von Ken Watanabe gespielter Unternehmensboss verlangt nun das angeblich unmögliche Gegenteil: Cobb soll im Unterbewußtsein seines überlegenen Konkurrenten Fischer eine Idee pflanzen (deshalb der Titel: »Inception« = engl. für ›Anfang‹, ›Beginn‹, ›Gründung‹), die Fischer dazu bringen soll, sein Erbe als mächtigster Unternehmensführer in den Wind zu schlagen. — Weite Teile des Filmes folgen also dem klassischen Einbruchskrimi-Schema. Cobb stellt ein Team mit Spezialisten zusammen, forscht sein Opfer aus, entwirft einen (für einen Sommer-Äktschnfilm erstaunlich komplexen) Plan, mittels dreifach ineinander geschachtelter Traumebenen die »Ich lass es bleiben«-Idee in Fischer zu sähen. — Und natürlich läuft dann, als es zur Sache geht, alles mögliche schief und man fibbert gespannt, ob, und wenn ja, wie alles noch wie gewünscht zum Ende kommt.
Meiner Meinung nach ist das aber nur die Oberflächenhandlung. Interessanter und dramatisch anspruchsvoller ist die persönliche Geschichte von Meisterdieb Cobb, dessen eigenes Unterbewußsein die größten Gefahren und Unwägbarkeiten für den Plan bedeuten. Cobb ist nämlich von der Machbarkeit der als unmöglich geltenden Ideeneinpflanzung überzeugt, weil ihm das einst bei seiner eigenen Frau, Mal, fatalerweise gelungen ist. Mit Mal zusammen hat er lange gemeinsam geträumt und die beiden haben dabei die Traumallmacht wie Götter Wirklichkeit kneten zu können genossen, bis es zumindest Cobb zuviel wurde. Um seine Frau wieder auf den Geschmack für die echte Wirklichkeit zu bringen, säuselte er ihr ein, dass alles Träumen ja nicht echt ist. Von diesem Ideen-Samen blieb ein »Nichts ist wirklich« wie ein Virus auch im Unterbewußtsein der wiederaufgewachten Ehefrau hängen und wucherte, bis Mal überzeugt ist, dass auch die Wachwelt nur ein Traum ist. — Ein Weg, aus den gemeinsamen Träumen zu erwachen, ist es, zu sterben. Fatalerweise stürzt sich Mal in den Tod, was Cobb sich nicht verzeihen kann. Nun hat er die Justiz am Hals, vagabundiert im Ausland herum und telefoniert ab und zu mit seinen Kindern zuhause. Schlimmer noch: Ein Abbild seiner Frau Mal (lateinische Vorsilbe für ›schlecht‹, ›übel‹, ›böse‹) spukt weiter durch Cobbs Unterbewußtsein als anklagender Rache- und Vereitelungsengel und droht seine Traumdiebstahl-Coups ein ums andere Mal ins Chaos zu stürzten. — Ende der großen Spoilerei
Kurz und gut: »Inception« ist (für mich) ein Film über das schmerzliche Ringen um Selbstvergebung und die Mühen, zwanghafte Erinnerungen überwinden, sowie über die Sehnsucht eines von seinen Kindern Getrennten nach seinem Zuhause, und nicht zuletzt über die Notwendigkeit, die Supermächtigen irgendwie dazu zu bringen, ihre Privilegien sein zu lassen, damit sie lernen, ohne goldenen Löffel und auf eigenen Beinen Mensch zu sein.
Soweit so gut. Aber: Trotz all meiner Begeisterung für diese feinen Thematiken bin ich aber (nach einmaligen Sehen der Originalfassunng) nicht bereit, dem Film die Höchstwertung zu geben. — Die Musik von Hans Zimmer ist es vor allem, die mich zurückhält. Beispielsweise wurden von Zimmer dialoglastige Expositionsszenen mit Orchester-Synthi-Gewaber derart zugekleistert, dass mich, da es für mich mittlerweile totaler Mainstream-Ideenlosigkeit entspricht, einfach nur nervte. Zudem ist der Film erstaunlich trocken, bieder und sogar etwas zäh. Nichts dagegen, dass »Inception« ein ernster Film sein will und damit gottseidank das oftmals dämliche ironische Gezwinker in Richtung zum Publikum sein lässt. Aber man kann es auch übertreiben mit der Ernsthaftigkeit und Schwere. Entsprechend ließen mich weite Teile der großen finalen Äktschn-Sequenzen (vor allem die im Schnee) ziemlich kalt, so schön sie auch gefilmt sind.
Auch wenn ich die überschwengliche Höchstwertungsbegeisterung der meisten Stimmen nicht teile, hier ein Link zur großen Reziübersicht bei »Schöner Denken«
Edit-Ergänz: Nach einiger Zeit des Nachdenkens habe ich den Film nun von 9 auf 8 Punkte herabgestuft. Am meisten begeistert mich die Metaphern-Sprache, die »Inception« entwickelt. Man könnte lange darüber diskutieren, was verschiedene Vorgänge und Bezeichnungen des Films ›eigentlich‹ bedeuten. Ich denke da nicht nur an die offensichtlichen Namensmetaphern (Ariadne, Mal), sondern vor allem an alles, was mit Gleichgewicht zu tun hat: der Kreisel-Totem, die aufgehobene Schwerkraft, der weckende Kick. Trotzdem komme ich nicht umhin festzustellen, dass »Inception« im Rückblick und nach einigem Gären über den Film in meinem Gedächtnis (nach zweimaligen Gucken) erstaunlich schnell verblasst, bzw. sich vage Enttäuschung bei mir breit macht, z.B. über die ziemlich gewöhnliche Schnee-Äktschn.
Fazit: Wunderschöner, anspruchsvoller SF-Streifen mit geschickt plazierten spirituellen und therapeutischen Passagen.
— 8 von 10 Punkten.
•••••
10 + + + + + Maßstabsetztendes Meisterwerk; Olympisch.
09 + + + + Überwiegend exzellent; Packend.
08 + + + Bemerkenswert mit leichten Schwächen; Anregend.
07 + + Befriedigendes Handwerk; Kurzweilig.
06 + Unterhaltsam mittelprächtig; Akzeptabel.
Unsichtbare Grenze der absoluten Mittelmäßigkeiten05 - Brauchbar mittelprächtig; ganz nett, aber insgesamt lau.
04 - - Überwiegend mittelprächtig; Anstrengend bzw. langweilig.
03 - - - Bis auf wenige Momente daneben gegangen; Nervig.
02 - - - - Ziemlich übeles Machwerk; Zeitverschwendung.
01 - - - - - Grottenschlechtes übles Ärgernis; Pathologisch.
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Eintrag No. 639 — Große Freude bei mir, denn aus Berlin erreichte mich zuerst eine Anfrage von Golkonda Verlag, ob man mein Portrait-Illu von Tobias O. Meißner für die Autoren-Seite der Verlags-Website verwenden dürfe.
Aber gerne doch!
Und weil ich den Golkonda Verlag sowieso lieb hab’ und den noch recht jungen Verlag für eine erfeuliche Bereicherung der deutschsprachigen ›Szene‹ halte, zeichnete ich auch gleich noch einen Joe R. Lansdale und einmal die Strugatzki-Brüder für den Verlag.
Eintrag No. 637 — In Bericht dazu, wie ich beim diesjährigen Deutschen Phantastik Preis abgestimmt habe, entspann sich ein Gespräch über Unzufriedenheit mit dem Einerlei routinierter Rezensionen, Wünsche nach besserer Vernetzung oder Zusammenspiegelung der ›anspruchvolleren‹, oder zumindest ›interessanteren‹ Phantastik-Kritikertexte. Ob und was ich unternehmen werde um den gefühlten Mangel zu schmälern will ich nicht zerreden (Aberglaube Aberglaube), was ich aber ab jetzt im Wochenrückblick anbieten werde, ist die Rubrik »Phantastik-Funde« (oder »Fantastik-Pfunde«?).
NETZFUNDE
Riesenlanges zweiteiliges Interview mit Fiktions-Großmeister Alan Moore anläßlich des englischsprachigen Erscheinens des nächsten Kapitels seiner »League of Extraordinary Gentlemen«-Saga, »Century: 1969«. Teil 1: Bestiary of Fictional Worlds, Teil 1 und Bestiary of Fictional Worlds, Teil 2.
Solange ich selbst keine Rezi zu China Miévilles jüngstem Roman »Kraken« rummwachsen lasse, hier als Trost ein informatives und offenherziges Interview mit dem Meister, das Jason Heller am 15. Juli für AV-Club geführt hat: Toying Around With The Mack-Daddy Of All Zap-Guns (Titel von Molo vergeben, nach einer Stelle aus dem Interview).
(Deutschsprachige) PHANTASTIK-FUNDE
Myriel, die fleissige Leserin, lieferte am 22. Juli eine geschickte und lobende Rezi zu Oliver Plaschkas hervorragendem Roman »Die Magier vom Montparnasse«.
Ich finde es immer spannend, wenn ›Genre-Leser‹ über den Tellerrand gucken und Sachen besprechen, die ›eigentlich‹ nicht als Exemplar aus dem Reich der Phantastik gelten. Gutes Beispiel: Thomas Harbach hat für »SF-Radio« zwei Bücher von Uwe Tellkamp verköstigt, »Der Eisvogel« und »Der Turm«.
WORTMELDUNGEN
Habe mich im Blog des von mir sehr verehrten Verlages Klett-Cotta gemeldet, bei einem Info-Filmchen zur deutschen Ausgabe von Tolkiens »Sigurd und Gudrún«, um Parkettboden-Alarm zu gebenxnb
Als komisch deklariert, aber doch schon auch sehr nützlich, erklären diese Filmchen des »Japan Culture Lab« uns Langnasen, wie sich traditionsbewußte Japaner benehmen. (Leider habe ich nicht alle Filmchen der Serie mit englischen Untertiteln gefunden. Es fehlen also die Einträge zu ›Grünem Tee‹, ›Süßen Nachspeisen‹, ›Reiskloßkneten‹ und Teil 3 und 4 von ›Mann wirbt um Frau‹).
tejime (手締め): Jubel-Klatschen bei förmlichen Anläsen wie z.B. Shareholder-Versammlung oder Vertragsabschluss;
shazai (謝罪): Kunst der Entschuldigung in verschiedensten Härtstufen, je nach Schwere des Vergehens;
dogeza (土下座): Weil schwerer als die anderen Entschuldigungen, ein eigener Eintrag nur für das, was bei uns als ›Kotau‹ bekannt ist;
origami (折り紙): Die Kunst des Papierfaltens, mit einem spektakulären Kampf zweier Meister;
hashi (箸): Ess-Stäbchen, wie man sie trennt und hält;
sushi (鮨): Wie man ein Sushi-Restaurant betritt, dort bestellt und bezahlt. Mit englischer Synchronisation;
kosai (Mann wirbt um Frau), Teil 1 und kosai, Teil 2: Superkomplex. Leider kann ich Teil 3 und 4 nicht finden.
Eintrag No. 636 — Letzte Woche trudelte Post aus England ein. Wolf von Niebelschütz: »The Badger of Ghissi«, erschienen bei Unwin Unicorn 1985 (Nachdruck der englischen Erstausgabe von 1963). Befremdend und doch gleich vertraut für mich, dass dieser wunderbare deutsche Roman aus dem Jahre 1959, der bei uns DauerGeheimtipstatus hat, von den englischen Verlagsleuten unumwunden als ›Fiction/Fantasy‹ eingestuft wird. — Sehr schade, dass nur der halbe Roman übertragen wurde. Geht nur bis Ende Kapitel 21 von 39. — Und schräcklich ist das Umschlagsbild von einem gewissen Kevin Tweddell.
Der Übersetzer Barrows Mussey hat, soweit ich das beurteilen kann, eine erstaunliche Arbeit abgeliefert. Hier als Kostprobe der mittlerweile ja fast schon ›berühmte‹ erste (Ab)Satz:
A bishop had been lying dead down in a rock wash of the Cedar Mountains for five hours under teeming cloudbursts. The wash had crumbled away under him and his wagon and his mules and his beloved, away under him, down on top of him, as if earth were flinging him into the maw of hell — all this just before nightfall.
Als Zuckerl hier die einzige mir bekannte farbige Karte der ›mythischen‹ Provinz Kelgurien, die der tatsächlichen Provence nachempfunden ist, enthalten als beigelegtes Blatt in meiner gebundenen Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags (Auflage 7. bis 11. Tausend; — Auf der Rückseite ist der Familienspiegel, ebenfalls mit farblichen Hervorhebungen). Leider geben alle späteren Auflagen, die ich kenne (also die Verlage DTV, Haffmans, Kain & Aber), diese Karte nur schwarz-weiß wieder.
Klick auf die Karte öffnet Fenster mit größerer Ansicht.
Fast in der Mitte der Karte liegt Ghissi, Herkunftsort der Hauptfigur Barral, der als Achtjähriger (geboren 1001) als einziger einen Sarazenenüberfall überlebt, dabei seinen ersten Gegner erschlägt, flüchtet, Jahre später als ca. 14-jähriger Schäfer zurückkehrt und dabei auf besagten hinabgemalmten Karren eines toten Bischofs und dessen verängstigter Liebesgespielin trifft.
Nahe Ghissi liegt der nächste größere Ort Ortaffa und es hat mich schier umgestrahlt, als ich bei Wikipedia ein Panoramabild des Ortes gefunden habe, der für Niebelschütz das Vorbild für Ortaffa: Les Baux. — Das ist wirklich eine feine Landschaft für einen satten Fantasy-/Mittelalterstoff! (Und liegt gar nicht in Neuseeland, na sowas!)
Eintrag No. 635 — Appell: Weiland das BKA (übertrieben gesagt) mit der ›tollen‹ Idee aufwartet, dass man nur noch nach Abgabe von Stuhl-, Blut- und Speichelprobe am Internet teilnehmen darf, wird Deutschland für dafür gerügt, dass Polizeigewalt zu einem Problem geworden ist. Da hielt ich es für eine gute Idee mich an der virtuellen Demo von Amnesty International zu beteiligen, die mehr Verantwortung bei der Polizei verlangt.. Ich finde alle vier möglichen Forderungen, für die man unterzeichnen kann sinnvoll:
Kennzeichnungspflicht jedes Polizisten;
Vorgänge in Polizeigewahrsam aufzeichnen;
Mehr Menschenrechtsbildung für Polizisten; und
unabgängige Untersuchung von Polizeiübergriffen.
Lektüre: Abwechselnd (zwischendurch) »The Walking Dead« und (hauptsächlich) »Die Kinder der Finsternis«.
Famos, dass man eine zeitgenössische, also jetzt genauer, zeitgeschichtliche Rezension im »Spiegel«-Archiv nachlesen kann (auch wenn leider nicht nachzuvollziehen ist, wer die Rezi verfasst hat, weil damals der »Spiegel« ja noch größtenteils ohne Autorenangaben erschien): Nur für Aristocraten mit c, aus dem »Spiegel« Nr. 31 von 1949 über »Der Blaue Kammerherr«.
Und zum Schluss die Dumpfbacke (genauer: der Dumpfback) der Runde: Tobias Schwarz (schreibt so Berlinromane … ja mei) findet die ewige Wiederentdeckung von Niebelschütz voll für die Füsse: Literarisch aus der Zeit gefallen, und es schmerzt mich, dass diese stumpfsinnige Meinung von der TAZ gedruckt wurde.
Eil-Ergänzung: Molochonik-Leser Marengo meldet im Kommentar zu dieser Wochenrundaschu, dass er (wie ich finde: ausführlicher, lesenwert & klug, und deshalb hier ergänzt) die jüngsten Artikel zu Niebelschütz kommentiert hat: Der Blätterwald über den Außenseiter.
Zweimal »Literaturschock«-Forum: Twillights hat für beide Romane je einen Thread eröffnet und bietet in den Eröffnungsbeiträgen Rezensionen zu »Die Kinder der Finsternis« und »Der Blaue Kammerherr«.
Sehr lustig finde ich die Diskussion zu »Die Kinder der Finsternis« bei google-groups. Ich stimme denen freilich zu, die den Roman als gelungenen Fantasy-, bzw. anspruchsvolleren historischen Roman empfehlen, und beeumel mich freilich, dass es natürlich Leser gibt, die meinen, dass der Roman ja gar keine Fantasy ist (wenn man auf Verlagsangaben Wert legt: sieht der Verlag der englischen Ausgabe — Unwin, bei dem ja auch Tolkien erscheint — anders, wie hier berichtet, hihi).
NETZFUNDE
Neuer Dauerlink: Schön langsam hat der Jongleur Luke Burrage mich überzeugt, denn zugegeben: seine Stimme klingt ziemlich nervig, er babbelt zu schnell um als freundlich gelten zu können, und bisweilen geht es recht wirr zu, wenn er mit seinen Notizen durcheinanderkommt. Trotzdem bin ich zum Stammhörer des Science Fiction Book Review Podcast geworden, denn mir taugen Lukes Meinungen und Herleitungen derselben. Wunderbar, wie er z.B. die Fantasy-Hypetitel »Name des Windes« und »Game of Thrones« als Durchschnittsware abkanzelt.
Eine willkommene Lektion in Beschönigungszauber bietet Klaus Jarchow in seinem »Stilstand«-Blog, wenn er zeigt, wie das Wörtchen ›Machtergreifung‹ bei Texten über Adi und die Nazis dazu dient, die geschichtlichen Zusammenhänge und Umstände schönzufärbeln: Wortlügen.
Ich gehe ja davon aus, dass in dem Infowar, in dem wir ja leben, es unter anderem beim Kampf um die besten Köpfe darum geht, wie verschiedene Sprachen miteinander kämpfen. In der Welt des Internets war der letzte Rundfunkstaatsvertrag ein voller Erfolg für die Gegner des Deutschen, eine erfolgreiche Verkrüppelung des Bildungs- und Informationsauftrages der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. — Warum? — Stefan Niggemeier macht es in seinem Bericht Die Leere hinter dem Link vom 19. Juli deutlich. Da werden massenhaft Mannstunden (und also Rundfunkgebühren) dafür verschwendet, mit irrem bürokratischen Aufwand dafür zu sorgen, dass Internetinhalte der öffentlich-rechtlichen nach kürzerer oder längerer Zeit (einer Woche bis 5 Jahren) gelöscht werden.
WORTMELDUNGEN
Bei SF-Netzwerk wurde nach den 33 Filmfavoriten der Nullerjahre gefragt. Hier meine Aufzählung meiner auch wenn natürlich hinterher wieder aufgefallen ist, welch großartige Sachen ich aus Platzgründen nicht berücksichtigen konnte (»Gosford Park«, »Master & Commander«, »Enternal Sunshine of the Spottless Mind«, »Wallace & Gromit«, »Home« um nur die ersten die mir einfallen zu nennen). — Trotzdem ist das Zusammenstellen solcher Listen ab und zu immer noch ein feiner Spaß.
ZUCKERL
R2-D2 Übersetzer: Muss man doch mal wissen, wie der eigene Name auf R2-D2-isch klingt.
Eigentlich zu unheimlich für ein Zuckerl, trotzdem meiner Meinung nach schön genug um ein solches zu sein. Der Film »1945 - 1998« des Künstlers Isaro Hashimoto zeigt alle Atombombentest von 1945 bis 1998 auf der Weltkarte, mit Scorezählung der Länder.
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Bester deutschsprachiger Roman: Für mich kein preiswürdiger Name / Titel dabei. Frank Schätzing, Kai Meyer und Marcus Heitz sind Autoren, die aufgrund der Bücher, die ich von ihnen kenne nicht in Frage kommen; und von Hennen kenne ich bisher nichts, was mich überhaupt dazu verlocken konnte, was von ihm zu lesen.
Bester internationaler Roman: Wiederum bekommt meine Stimme das Werk, welches ich überhaupt gelesen habe, also Dan Simmons: »Drood«.
Beste deutschsprachige Kurzgeschichte / Beste Original-Anthologie/Kurzgeschichten-Sammlung: Keine der genannten Anthos gekauft oder gelesen, damit auch keine der Geschichten.
Beste Serie: Ich lese prinzipiell keine Serien.
Bester Grafiker: Arndt Drechsler hat mir zu oft schräckliche Cover vorgelegt um wählbar zu sein; — Timo Kümmel ist wohl ein Gnadenvorschlag (allein schon wegen seiner »Gor«-Cover nicht mal satisfaktionsfähig); — die Sachen von Ernst Wurdack und Mark Freier sind mir zu flach (auch wenn Freier wenigstens noch gut Ahnung von Typo- und Farbakkorden hat); — bleibt also nur Dirk Schulz (auch wenn es mich wurmt, damit einen Perry Rhodan-Illustrator gewählt zu haben).
Bestes Sekundärwerk: Völlig unbescheiden wähle ich »Magira – Jahrbuch zur Fantasy«.
Bestes Hörbuch/Hörspiel: Keines der Werke gehört.
Beste Internet-Seite: Bei den Internetseiten hadere ich am meisten. »Geisterspiegel« und »Zauberspiegel« sind so gar nicht meine Wellenlänge. — »Bibliotheka Phantastika« und »SF-Netzwerk« sind ›nur‹ Foren. Bei der »Bib-Phant« hat sich seit der letztjährigen Nominierung exakt nichts Neues getan, der Rezensionsbereich ist tot, für mich somit nicht preiswürdig. Und bei »SF-Netzwerk« bekommt man die Film- und Buch-Datenbanken auch seit Ewigkeiten nicht mehr Gang, ein Wiki-Projekt ist begonnen worden, rohrkrepierte aber aufgrund naiver Vorstellungen darüber, wie ein solches Projekt funktionieren soll. — Bleibt also von den Nominierten nur »Fantasyguide« als wahlwürdig übrig, denn die haben mit HMP einen halbwegs regelmäßigen liefernden und ziemlich interessanten Polemiker / Kolumnisten, sowie ab und zu hervorragende Spezial-Seiten, beispielsweise Oliver Kotowskis »Phantastische Weltreise«. Leider ist das Lay-Out von »Fantasyguide« schröcklich und die lesenswerten Rezensionen sehr sehr selten.
Eintrag No. 633 — Hotel gebucht. Fehlt nur noch die Anmeldung abschicken und Bahnfahrt dingfest machen, dann heißt es: »Hamburg und Kongress der ›Gesellschaft für Fantastikforschung‹, ich komme!«
Lektüre: Fertig mit »Der Blaue Kammerherr«, den ich nun also zum zweiten Mal komplett gelesen habe. Unglaublich. Ich bleibe dabei: eines der besten Bücher überhaupt und ever! Vor allem: eines der besten Fantasy-Bücher und wer’s nicht lesen kann, weil des Deutschen nicht mächtig, darf einem aus ganzen Herzen Leid tun. — Es gibt ja verschiedene Ausgaben und Auflagen dieses galanten Romens in vier Büchern (die gekonnt den vier Sätzen einer Symphonie entsprechen:
»Der Botschafter der Republik«: Allegro mit Overtuere und Feuerwerk (sprich: Vulkanausbruch, Erd- und Seebeben);
»Der Reichsgraf zu Weißenstein«: Andante, mit Intriguen-Fuge und Staatsstreich;
»Der Herzog von Scheria«: Scherzo, mit gigantischen Park-Abteilungen und einem Menuett;
»Die Bürgerin Valente« Allegro finale inkl. Traum-Kadenz, Bürgerkrieg, Wahnsinn und Himmelfahrt.
Von allen Ausgaben mag ich die Haffmans-Taschenbüchern am liebsten. Kann man antiquarisch für etwa 20 Euro bekommen. Ich mag die Titelbilder von Nikolaus Heidelbach sehr (die ich vor Jahren schon zu einem Desktop-Schmuck zusammengestellt habe … hier verkleinert wiedergegeben; das Bild zeigt die vier Titelfiguren von links nach rechts). — Aber auch die neue Ausgabe von Kain & Aber ist schön, und wer’s klassisch mag, der kann ja versuchen, die feine kleine (die gebundene, quasi-marmorierte) Schmuckausgabe des Insel-Verlages aufzutreiben.
Nun geht es direkt weiter mit dem anderen großen Roman von Niebelschütz »Die Kinder der Finsternis«.
Ansonsten habe ich mir als Kontrastlektüre den dicken großen Sammelband von »The Walking Dead« besorgt; wunderbar als Zwischendurchstoff in der Küche, während man aufs Heisswerden des Nudelwassers wartet.
NETZFUNDE
Marcus Hammerschmidt hat am 10. Juli für Telepolis ein mein Gemüt erwärmendes Geraunze gegen die sommer-märchenliche Fussball-Irrsinn-Stimmung verfasst: Ölpest an Gefühlen.
Der erstaunliche Herr Damaschke macht aufmerksam und bietet Übersicht zu den Einträgen einer erfreulichen Kolumne von Jan-Frederik Bandel, welcher in der »Jungen Welt« darüber schreibt, wie er auf Arno Schmidts »Zettels Traum« wartet, welchselbiges Monstre-Buch ja im Herbst erstmals in gesetzter Form bei Suhrkamp / Arno Schmidt-Stiftung erscheinen soll. (Ein Großereignis, dem ich auch schon entgegenfibbere.)
Hochinteressante Großreportage, kompletto umsonst zu lesen bei »Digital Culture Books«. Jim Rossignol will mit seinem Text ein positiveres Bild vom Video-Spieler zeichnen, und berichtet, wie Spiele das Leben bereichern und gewissen Dingen förderlich sein können, kurz: dass sie Kultur sind für viele aus der mit ihnen groß gewordenen Generation. This Gaming Life: Travels in Three Cities. Zugegeben, ich bin lediglich mit dem ersten Kapitel fertig, aber das reicht auch schon, um das Buch zu empfehlen.
Gut geschriebener Portrait- / Rezensions-Artikel der »New York Times« über das Autorenpaare Kenneth Rogoff (Schachmeister der in die Wirtschaftsforschung wechselte) und Carmen Reinhardt (aus Exilkubanischer Familie), die mit »Dieses Mal ist alles anders« eine datenreiche Großstudie über 800 Jahre Finanzmurksgeschichte vorgelegt haben: Economists Who Did Their Homework (800 Years of It).
Neuer Dauerlink: Schande, dass ich den jetzt erst einpflege. Herbert Gnauer betreut für Radio Orange in Wien eine kommentierte Lesung der »Kulturgeschichte der Neuzeit« des einzigartigen Egon Friedells. Zu den illustren bisherigen Gästen gehören solch Prominente des Geisteslebens wie Daniela Strigl, Klaus Nüchtern und Heribert Illig: Egon Friedell bei Radio Orange (hier als Podcast-Feed) neue Folgen jeden zweiten und letzten Donnerstag des Monats
WORTMELDUNGEN
Einer der fleissigsten und lesenswürdigsten Comic-Journalisten die wir haben, Stefan Pannor, hat eine Rezension zu dem wunderbaren neusten Band aus Schuiten & Peeters »Die geheimnisvollen Städte«-Welt geschrieben: »Die Sandkorn-Theorie«, und was muss ich Detailfizzelnörgler machen? Eben, in Herrn Pannors Blog mit Detailfizzelgewichtel auffallen.