molochronik

Übersicht, Ein- & Überleitung(en) von Molos Sammelrezi in »Magira 2009«

Eintrag No. 587

Ausnahmsweise habe ich dieses Jahr drei Rezensionen (zu Max Brooks, Nick Haraway & Hal Duncan), die bereits in der Molochronik erschienen sind, für meine »Magira«-Sammelrezi, wiederverwertet (erweitert und verbessert, um genau zu sein).
Wie immer werden die Volltexte der anderen Empfehlungen ab dem Frühjahr Stück für Stück in die Molochronik eingepflegt.
Wie immer habe ich meinen Herausgebern Michael Scheuch und Hermann Ritter für ihre entgegenkommende Herausgeberschaft und ihr Lektorat zu danken, muss mich bei meinen Korrekturlesern entschuldigen für den Buchstabenverhau, den ich als fertige Manuspripte abzugeben pflege und grüße den Layouter Michael Haitel und freue mich über seine schöne Aufbereitung meines Beitrages inkl. der verwendeten Illus.
Hier geht es zu einer kleinen Vorschau von mir auf »Magira 2009«.

•••

WONNIGLICH VERIRRT IM LABYRINTH DER PHANTASTIK
Wenn schwarze Schnörkel auf weißem Untergrund angemessen angeordnet sind, transportieren sie uns in Millisekunden in beliebig weit entfernte, vergangene oder sogar nie gewesene Orte und Zeiten.

—Douglas R. Hofstadter (*1945), »Ich bin eine seltsame Schleife«, Klett-Cotta 2008, Seite 343

Manchmal grinse ich gedankenverloren, wenn ich mir vorstelle, es gäbe ein Leseratten-Rollenspiel, bei dem Spieler sich in Leseabenteuer stürzten. Wie bei anderen Rollenspielen auch, könnten Spieler dabei aus einem Pulk verschiedenster Charakterklassen wählen und beispielsweise (unter anderen) träumerische Genussleser, detailversessene Sprachpedanten, mystische Metapherndeuter, pietätvolle Ekstasejunkies, argumentationsgewahre Zeitläuftendeuter oder modebewusste Trendsurfer verkörpern. Es ginge darum, dass man in der erschlagenden Vielfalt der Bücher befriedigende und erhellende Lektüren aufstöbert, im Lauf der Zeit eine respektable Bibliothek zusammenträgt, sich einen guten Ruf als glänzender Interpret und Bücherblätterwaldpfadfinder schafft. Auf dem Charakterbogen fänden sich solche Fähigkeitsspalten wie Wortschatz, »Lesegeschwindigkeit«, »Leseausdauer«, »Bedeutungsspürsinn«, und eine Punkteskala für »Leselust-/Frusterlebnis« gäbe die Analogie für Lebenspunkte ab (bei wem dieser Balken dauerhaft auf Null verharrt, der/die gibt das Bücherlesen auf).

Vorlieben und Abneigungen sowie natürlich die von den momentanen Lebensumständen diktierten Gemüts- und Verstandesverfassungen würden beeinflussen, ob und wie sich aus den diversen inhaltlichen, stilistischen und ästhetischen Eigenschaften eines Buches freud- oder leidvolle Lektüreerlebnisse ergeben. Mit Bonus- und Maulus-Fähigkeiten wie »eidetisches Gedächtnis«, »Humorlosigkeit«, »Hypersensibilität«, »Legasthenie« oder »perverse Neigungen« (verschiedenster Art) könnte man seinen Charakter Würze verleihen. Ein einzelnes Abenteuer könnte davon handeln, wie gut man sich behauptet eine verwirrende Geschichte zu deuten, etwa »Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke« von Ambrose Bierce. Eine viele Spielabende umfassende Kampagne könnte sich darum drehen, das Gesamtwerk von James Joyce oder Friedrich Wilhelm von Junzt ohne Schaden an Herz und Verstand zu überstehen, oder indem man bei einem Diskurs darüber ob ›High‹- oder ›Low Fantasy‹ das Bessere (oder was darunter überhaupt zu verstehen) sei, möglichst viele Deutungshoheitspunkte ergattert. Wessen Charakter nicht druffgeht (sprich: die Lust am Lesen nicht einbüßt und vermeiden kann, zum Beispiel zu einem Bier- und Glotze-Lemuren zu werden), kann sich in den höheren Leveln daran machen, verschiedene Wege einzuschlagen um selbst aktiv am Bücherweltstoffwechsel teilzunehmen: als fabulierender Autor, als Lektor-Hebamme, als berüchtigter Kritiker, als eloquenter Dozent an einer Uni, als Raritäten dealender Antiquar, als brückenbauender Übersetzer. Und natürlich gäbe es für Spieler die nach Abwechslung dürsten Erweiterungen wie »Kästchen & Sprechblasen: Im Reich der Comics«, »Lesen mit den Ohren: Im Land der Hörspiele & Hörbücher«, »Filmgeschichten: Leinwand & Flimmerkasten«, »Die Strudel der Immersion: Videospiele & Virtuell Reality« und für die ganz Hartgesottenen: »Semiotik & Mystik: Die ganze Welt ein Buch, das eigene Leben als Text«.

Abgesehen von dem Vergnügen, welches mir dieses Gedankenspiel bereitet, fände ich es bisweilen schlicht und ergreifend nützlich, wenn sich Leseratten anhand des Vergleichens ihrer Charakterbögen (und denen der Bücher) schnell und bequem darüber orientieren könnten, welche Lektüren einen näheren Blick wert sind, und um welche Autoren und Stoffe man vielleicht besser doch einen Bogen macht, beziehungsweise, mit welchem Rüstzeug sich die unwegsameren Lese-Terrains freudvoller durchqueren lassen. Nicht zuletzt wäre so ein Leseratten-Rollenspiel ein feines Medium, um sich über die strategischen Feinheiten des Lesens auszutauschen, in etwa so: »Bei diesem Titel brauchst Du für die ersten Handvoll Kapitel einen Geduldstrank«, oder: »Wenn man dieses Buch laut liest, kann man einen +2-Bonus für melodische Sprachschönheit ergattern«, oder: »Für dieses Buch muss man einen kritischen Skepsiswurf -3 schaffen um nicht gelangweilt zu werden, außer, Du hast mindestens die zweite Stufe der Fertigkeit Gegen-den-Strich-Lesen inne, dann darf man alle Dutzend Seiten einen Gacker-Gewinnwurf von 3 mal W8 machen«.

Diese Phantasie birgt aber auch reichlich Sprengstoff, denn was käme dabei heraus, würde man Büchern und ihren Lesern ein rollenspieltypisches Punkte- und Wertungssystem überstülpen? Richtig: Unfrieden drohte bei solcherart hierarchischen Stufenleitern. Denn wo es dann einerseits bestimmte Bücher gäbe, für die man mehr Erfahrungspunkte einheimste, und gewisse Werke sich besser knacken ließen von fortgeschrittenen Leser-Spielercharakteren, so fänden sich andererseits am gegenüberliegenden Pol die Nichtschwimmerbecken-Bücher für (noch) unmächtigere Lesespielercharaktere. Und wer möchte sich schon gerne nachsagen lassen, dass er vornehmlich auf Stützräder-Romane ausweichen muss um Leseerfolge verbuchen zu können? — Derartiger Spott über die Leser und Bücher der niederen Erfahrungslevels soll hier aussen vor bleiben. Das Ungeschick und die Borniertheit der literarisch Hochnäsigen, speziell jener, für die alles (oder doch das allermeiste), was als ›Genre-Phantastik‹ daherkommt automatisch beschränkter Schund ist, sei uns Ärger genug und lediglich Anlass für vergnügte Empörung, wenn wir unseren matten Kreislauf und gelangweilten Geist auf Zack bringen wollen. Jedoch kann ich nicht verhehlen, dass ich mich als Mittdreissiger, der seit gut 20 Jahren alle möglichen Buchstaben-Donjons durchirrt, nicht mehr voll-authentisch und auf gleicher Augenhöhe an die jugendlichen Lesefrischlinge wenden kann, genauso wie ich gegenüber gestandenen Schmöker-Veteranen (die mir Jahre, wenn nicht Jahrzehnte an Leseerfahrungen voraus sind) beim Austrudeln von Sinn, Weh und Wert der Phantastik gehörig ins oftmals peinliche Fuchteln gerate. Aber als jemand, der mittenmang irgendwo im Transitbereich zwischen den unschuldig-begeisterten Lektürehaltungen der Adoleszenz, und der kennerhaft-spitzfindigen des Alters herumeiert, will ich mich mühen, entsprechend zwiegefärbte Kunde zu geben, hier sozusagen in ansteigender Herausforderungsabstufung. Letzteres sei so zu verstehen, dass ich mich von den Titeln, die sich entspannter, lockerer handhaben lassen, hochwurschteln werde zu den Werken, die sich an Leser wenden, welche selbst bei kompliziertester Lektüreakkrobatik mit Freude an der Sache mitzuhampeln vermögen.

•••

Ju HonischAls bekennender Fanboy von China Miévilles bisherigem Schaffen, hatte ich auch mit dessen Jugendroman-Erstling »Un Lon Don« meine Freude, wenn Miéville wiederum geschickt gesellschaftskritische Watschen austeilt und dabei so manche Genreformel umkrempelt und bloßstellt; angetan bin ich von Max Brooks Debut »Wer länger lebt ist später tot – Operation Zombie«, in dem sich unsere moderne Welt angesichts der Megakrise einer Untoten-Pandemie bewähren muss; mit Wonne habe ich die elegant-humorigen, verplauderten Abschweifungen von Nick Harkaway (ebenfalls ein Debutant) verköstigt, der mit »Die gelöschte Welt« einen kampfkunstgesättigten, postapokalytischen Genre-Cocktail zusammengeschüttelt hat; gehadert, aber schließlich erstmal überzeugen lassen habe ich mich von Hal Duncans »Vellum«, dem erstem Band des zweiteiligen Werkes »DAS EWIGE STUNDENBUCH«, einem vermessen wilden Mythen- und Genremix der scheinbar vom Zufallsmodus beherrscht wird; gehörig verdutzt war ich, dass sich »Gegen den Tag« vom wohl schrägsten aller ewig leer ausgehenden Nobelpreis-Kandidaten, Thomas Pynchon, so gar nicht als unlesbar und schwer zugänglich präsentierte, sondern als lustvolles gigantisches Prosagemälde mit viel abenteuerlichem Steampunk-Western-Reiseabenteuer-Flair; zuletzt berichte ich davon, wie mir Mark Z. Danielewski mit seinem schon ungescheit extravaganten »Das Haus – House of Leaves« wahrlich schreckensgetränkte Schlaflosigkeit bescherte. Den Beginn aber macht eine heimische Autorin, auf die ich große Hoffnungen setzte.

Ju Honisch: »Das Obsidianherz«, oder: Dämonen- und Zauberschrifthatz im königlich-bayerischen München.

••• Hier geht’s zur Rezi.

•••

China MiévilleVon durch München-Eleganz und -Romantik geprägter Abenteuerphantastik nun zu solcher, die durch appellative Subversion und metropolitäre Rotzigkeit auffällt. Auch hier stehen vor allem (junge) Damen im Mittelpunkt, und auch hier hegt ein verborgener Schrecken großherrschaftliche Ambitionen.

China Miéville: »Un Lon Don«, oder: Querfeldein in London diesseits und jenseits des Absurdums.

••• Hier gehts es zur Rezi.

•••

Max BrooksIm nächsten Titel sind die Bösen noch nicht einmal willenlose Handlanger von sich im Okkulten verbergenden, sich mit Trug und Schein tarnenden Strippenziehern, sondern simple Fresszellen in Menschengestalt. Das düstere Fantasyland der Zombiefiktionen erfreut sich vermutlich vor allem wegen zweier Eigenschaften großer Beliebtheit: von der nicht so empörenden, der metaphorischen Flexibilität der Zombies ist gleich ausführlicher die Rede; beunruhigender und sicherlich spektakelträchtiger ist allerdings der Umstand, dass Zombies menschenförmiges, jedoch entmenschlichtes Böse sind, gegenüber dem sich keine Zurückhaltung empfiehlt und Reue deplatziert ist (auch wenn der Blick durchs Zielfernrohr vorm Abdrücken Mitleid für den Ex-Menschen erregen mag).

Max Brooks: »Wer länger lebt ist später tot – Operation Zombie«, oder: Weltkrieg Z – Eine mündliche Geschichte des Zombie-Krieges.

••• Hier gehts es zur Rezi.

•••

Nick HarkawayZu meinen schönsten Leseerlebnissen gehört, wenn ich mich richtiggehend in die Schreibe und Ideenwelt eines Autors verliebe. Grob kann ich zwei Arten solcher Hingerissenheit unterscheiden: Einmal die harmlosere und für das Funktionieren im Alltag verträglichere, wenn Bücher mich ›einfach nur‹ gut unterhalten, da sie sich unangestrengt flott wegschlürfen lassen. Das geht, wenn Geschichte, Setting und Figuren ausreichend interessant sind um mich zu fesseln, in übersichtlicher Manier und Ereignisfolge erzählt wird, und der Stil weitestgehend kapriolenfrei (= gewöhnlich, unaufdringlich) bleibt. Dann blättern sich die Seiten wie bei einer Dominokettenreaktion wie von selbst um. Solche Bücher müssen nicht zwangsläufig seichter Tüdelkram sein.[01] — Und dann gibt es Romane, die sich hinsichtlich ihres Ideenreichtums und ihrer Wendigkeit bei der strukturellen Darbietung, ihrer Sprachakrobatik und Stilregistervarianz förmlich überschlagen, so dass ich mich anstrengen muss um einen sicheren Erwartungshaltung-Stand auf ihren schwankenden Exzentrikplanken zu wahren. Das sind dann auch die Bücher, die sich nur schwerlich in einer bestimmten Schublade unterbringen lassen. Bücher, die vor allem zu Beginn und vielleicht auch immer wieder mal zwischendurch zu sperrig oder glitschig sind um sie mit sicherem oder dauerhaften Griff zu fassen, die aber (wenn’s gut geht) die erhöhte Konzentrations- und Geduldsmühen mit einem ganz eigenen Faszination- und damit Unterhaltungszauber entlohnen.

Natürlich ist diese Zweiteilung taxonomischer Firlefanz, denn die allermeisten Romane lassen sich nur π-mal-Daumen und eben nicht eindeutig unter ›locker-flockig‹ oder ›aufregend-anspruchsvoll‹ wegsortieren. Die allermeisten Romane zeichnen sich durch ›sowohl als auch‹-Eigenschaften aus, auch wenn sie mehr oder minder deutlich einem der beschriebenen Pole näher sind (was ja nicht zuletzt von der jeweiligen Perspektive des Lesers abhängt). Und der folgende Roman befindet sich meiner Einschätzung nach in etwa in der Mitte dieses Spannungsfeldes, und lässt sich also je nach Sichtweise noch als ›leichteres‹ (aufgrund seiner heiteren Abenteuerlichkeit) oder bereits als ›herausforderndes‹ Lesevergnügen einstufen (aufgrund seiner inflationären erzählerischen Hakenschläge).

Nick Harkaway: »Die gelöschte Welt«, oder: Ninjas, wandernde Städte nach dem großem Bumm und eine seltsame Freundschaft.

••• Hier gehts es zur Rezi.

•••

Thomas PynchonMit »Die gelöschte Welt« als Übergangszone habe ich nun endgültig die »einfacher« zu genießenden Bücher, (die trotz überraschender spannungserzeugenden oder sprachverspielten Kapriolen vergleichsweise übersichtlich bleiben und das Realitätsempfinden und Orientierungsvermögen ihrer Leser nicht mit allzu ungebändigten metaphysischem und stilistischen Extravaganzen durcheinander bringen wollen) dieser Sammelrezension passiert. Jetzt geht’s auf in die Narrationswildnisse, wo das Erzählen zu nichts endgültig Rundem und Ganzen mehr führt; wo die wichtigste Trostspende der Literatur, die Durchschaubarkeit des Gelesenen, verweigert wird.[02]

Es heißt Abschied nehmen von klaren Anfängen in der Normalität, die durch Krisen in Auf- und Abschwüngen aus Gefahr und Rettung verwandelt werden und zum Ende hin eine weitestgehende Auflösung der angestauten Spannung erfahren (womöglich sogar in einer Idylle).

Wenn entnervte oder enttäuschte Leserproteste und Unmutsmeldungen als Indiz gelten, dann muss ich die verbleibenden drei Titel dieser Sammelrezi Wohl oder Übel als schwierig-herausfordernde Lektüren markieren. Ins Positive gewendet zeigen diese Bücher jeweils auf ihre eigentümliche Weise, zu welch artistischen Höhenleistungen man die phantastische Romaneform treiben kann, wenn man ihre Bestandteile gründlich auseinandergenommen, um originelle Form-, Sprach- und Perspektivregister erweitert und zu etwas gänzlich Unerwartetem wieder zusammengefügt hat.

Thomas Pynchon: »Gegen den Tag«, oder: Leinen los, oh, ihr Gefährten der Fährnisse!

••• Hier geht es zur Rezi.

•••

Hal DuncanAuch das nächste Buch spielt mit dem Thema vom ewigen mythischen Gekabbel zwischen Freiheit und Zwang, zwischen der Anarchie des Individuums und der Kontrollbestrebungen der Ordnungsmächte. Doch bleibt »Gegen den Tag«, verglichen mit dem nächsten Kandidaten, trotz seiner ins Unübersichtliche artenden Handlungsstrangvielfalt und stilistischen Wandlungsfähigkeit ein vergleichsweise klassischer Großroman. Das folgende Buch geht bei seiner Zertrümmerung und willentlichen Leserverwirrung noch einige entscheidende Schritte weiter und lädt dazu ein, sich mit Genuss zu verirren, mit Schaudern über einem erhaben-apokalytischen Abgrund zu schweben.

Hal Duncan: »Das Ewige Stundenbuch 1 – Vellum«, oder: Die Mythen-Jukebos voll aufgedreht.

••• Hier gehts es zur Rezi.

•••

Mark Z. DanielewskiAls Abschluss meiner diesjährigen Sammelrezi wähle ich den Überwahnsinn, wo alles zusammenkommt und sich trefflich fügt: ein experimentelles Werk eines neuen Autoren, mit herausragendem Engagement und großer Könnerschaft übertragen. Beim letzten Titel der diesjährigen Runde wurde mit hohem künstlerischen Einsatz gepokert, sicherlich auch ein wenig geblufft, dennoch ist das Ergebnis ein Werk, das gerechtfertigterweise schnell den Ruf eines (post)modernen Klassikers für sich verbuchen konnte, eines Romanlabyrinths das zum Vergnügen auffordert sich in ihm hoffnungslos zu verirren.

Mark Z. Danielewski: »Das Haus – House of Leaves«, oder: Hausbuch/Buchhaus frisst seine Leser, nee andersrum, oder?

••• Hier gehts es zur Rezi.

•••

ANMERKUNG:

[01] Robert Harris (»Imperium«, über Aufstieg des Verbal- und Argumentationsmagiers Cicero), Annie E. Proulx (»Mitten in Amerika«, Sinnqueste eines Slackers im Panhandlegebiet und Kampf gegen böse Schweinemassenfarmkapitalisten), Gisbert Heafs (»Ceasar«, zünftige Soldatenabenteuer in Caesars Armee inkl. doller Plutarch-Remixe ) oder auch der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk (»Schnee«, politisch-kulturelle Wirren und Konflikte in Hinteranatolien mit einem traurigen Dichter als verliebter Narr in der Fremde) haben mich im Zeitraum seit »Magira 2008« mit vorzüglich-kurzweiliger und eingängig lesbarer Relevanz versorgt. ••• Zurück
[02] Zu den bedeutensten zivilisations- und identitätstabilsierenden Eigenschaften der neuzeitliche Romane (egal ob phantastisch oder nicht), gehört, dass sie Aufgaben übernommen haben, welche bis dahin die von Autoritäten vorgesetzten Mythen erfüllten. Schönes Zitat dazu aus »Kultur als Zwischenwelt – Eine evolutionsbiologische Perspektive« von Karl Eibl (Suhrkamp, edition unseld 2009), Seite 172:
Dass die Menschen aus solchen Geschichten {Heldenepen, Bildungsromane, Geschichten im Fernsehen usw.} Persönlichkeitshäppchen zum eigenen Gebrauch herausnehmen oder Informationen über die Welt und die Menschen erhalten, ist vermutlich von zweitrangiger Bedeutung. Viel wichtiger ist, dass Riten und Mythen das Vertrauen bestärken, dass Kontinuität überhaupt möglich ist und dass unterhalb der fragmentarischen Erfahrung des Alltags irgendeine bleibende Substanz west.

••• Zurück

Mal was neues, meint die freundliche Welt: Urban Fantasy

(Eintrag No. 570; Woanders, Phantastik, Fantasy, Urban Fantasy) — Schon wieder »Die Welt«. Diesmal jedoch mit einem ihrer Artikel aus der Reihe: »Wir erklären Euch die Phantastik«. (Wohl ein Beitrag aus der Elternratgeberreihe: »Was ist das für ein seltsamer Quatsch, den meine Kinder lesen?«)

Wieland Freund darf da im Text »Dumbledore fährt jetzt U-Bahn« kund geben, dass ›Urban Fantasy‹ die neueste Modewelle sei. Und Urban Fantasy liegt nach Freund vor, wenn die …

Pseudo-Mythologie der herkömmlichen Fantastik in die Metropolen getragen wird.

Aber, Freund liefert auch diesen schönen Satz:

»Zur sogenannten High oder Epic Fantasy {…} verhält sich die Urban Fantasy wie einstmals die Rolling Stones zu den Beatles.«

Passt aber irgendwie nicht. — Ich schlag mal den Vergleich vor, dass High/Epic Fantasy ist Enja und Clannad und Urban Fantasy ist Pouges und Bellowhead.

Kleine Korrektur: Jeff Vandermeers Roman »Shriek« spielt mitnichten zur Gänze in der fiktiven Zweitschöpfungswelt-Metropole Ambra. Es gibt in »Shriek« zum Beispiel ein Schlüsselkapitel, das im Waldumland der Kleinstadt Stockton spielt; ein anderes spielt in der mittelgroßen Stadt Morrow.

Seufzen lässt mich folgendes:

Ohnehin: die Keimzelle der Urban Fantasy zu suchen, ist in etwa so schwer, wie dieses fantastische Sub-Genre von anderen zu unterscheiden. Wo etwa fängt die Urban Fantasy an und wo hört der sogenannte Steampunk auf {…}

Da wird wieder mal stillschweigend so getan, als ob anständige Genrebegriffe klar abgrenzbar und eindeutig zu sein haben (und alles andere ist irgendwie subversiv, oder was). Nochmal: Genrebegriffe sind selten klar und einfach zu bestimmen, aber so gut wie immer eine Vereinfachung und Zurechtbiegung. Und: Einzelne Werke können sehr wohl mehreren Genres angehören. Wenn sich also gewisse Urban Fantasy wie Science Fiction lesen, ist das kein Problem, sondern ein ›Blickwinkel wechsel dich‹-Angebot.

Wiederum arg versimpelt:

Und auch Neil Gaiman {…} schreibt nicht explizit über Städte.

Und was ist mit Gaimans erstem Roman »Neverwhere«? Was mit seinen vielen »The Sandman«-Kapiteln und Handlungssträngen die in Städten spielen (ich erwähne nur Heft 51, weil ganz besonders exemplarisch: »The Tale of Two Cities« aus dem »Worlds’ End«-Sammelband).

Dann macht Freund Werbung für Jugendbuchneuerscheinungen die wohl nur erwähnenswert sind, weil sie vom gleichen britischen Lektor vermittelt wurden, der auch Rowling entdeckt und Funke ins Englische gewuppt hat.

Ansonsten aber keine Erwähnung von Michael de Larrabettis »Die Borribles«; kein Verweis darauf, wie Pratchett mit seiner Scheibenweltmetropole Ankh-Morpork reale Urbanitätseigenheiten (vor allem die Londons) satirisch-phantastisch aufs Korn nimmt; kein Wörtchen über Miéville und seine heftige Auseinandersetzung mit Städten in der Phantastik (mit London in »King Rat« und »Un Lun Don« und jüngst mit zwiestädtischen In- & Nebeneinander in »The City & The City«). — Dass in der »Die Welt« womöglich über solche Einflüsse und Entwicklungen berichtet wird, wie sie die »World of Darkness«-Rollenspiele darstellen, erwarte ich ja schon gar nicht mehr.

Also dann: bis zum nächsten Versuch, was rundum gescheites über Fantasy zu schreiben.

»Fünf Projekte die jemand anderes unbedingt machen sollte« von China Miéville (Gastblogeintrag 3/3 für »Omnivoracious«)«

(Eintrag No. 564; Woanders, Ideen, Fantasy, Geschichte, Biologie, Soziologie) — Hier nun ein Anreisser zum dritten (und letzten) Gastblogbeitrag von China Miéville, der letzte Woche bei »Omnivoracious« unterwegs war, auch anlässlich der Vorstellung seines jüngsten Romans »The City & The City«.

In »Leave an Idea, Take an Idea« stellt Miéville vier Buch-Ideen und eine Projekt-Idee vor.

Meine komplette Übersetzung von »Schenk eine Idee, nimm eine Idee« kann man auf der deutschen Miéville-Fansite »www.bas-lag.com« lesen.

  1. Aus dem Rahmen gefallen: Ein Sachbuch, eine Essay- und Interviewsammlung über Menschen, deren Mitgliedschaft bei einer Organisationen gegen unsere groben Erwartungen verstößt. Beispielsweise jüdische Mitglieder der Palästinensischen Befreiungsorganisation, muslimische Mitglieder der Bharatiya Janata Partei, Protestanten die der Sinn Fein beigetreten sind, singhalesischen pro-Tamilien-Aktivisten, und so weiter.
  2. Ideen im Überfluss: »Eine Stadt, deren Straßen mit Zeit gepflastert sind«, brabbelt Madoc. »Köpfe aus Licht … ein Wer-Goldfisch…«, und so weiter. Madocs Ideen reichen vom Über-Einsichtsvollem: »Greife sollten nicht heiraten«, über das Numinöse: »Ein alter Mann … dem das Universum gehörte«, bis zum Humoristischen: »Zwei alte Weiber fahren mit einem Wiesel in Urlaub«, bis hin zum (scheinbar) Banalem: »Ein kleines Stück blauer Karton«.
  3. Außergewöhnliche Widersprüchlichkeit: »Romaine die Prophetin (sic!) war ein Mann, der seine Authorität auf seinen göttlichen Attributen gründete.« {…} Sicher, sicher ließe sich ein erstaunliches Buch über Romaine Rivière schreiben, der behauptete der Urenkel der heiligen Jungfrau zu sein, und der zu einem auf dem Kopf stehenden Kreuz betete. Er war verheiratet und hatte Kinder, dennoch drängt sich beharrlich die Frage auf: Liegt es vielleicht nicht an einer ›außergewöhnlichen Widersprüchlichkeit‹, dass er sich die Geschlechtergrenze übertretend benamste?
  4. Fremdländer: Eine Herde {Wallabies} hoppelt emsig im Peak-District-Nationalpark. Dort gibt es auch einen Schwarm Papageien. In der Themse tummeln sich Wollhandkrabben — bei denen es nicht mehr passend ist, sie als ›chinesisch‹ zu bezeichnen, genauso wenig wie bei den Muntjaks, die in Süd- und Mittel-England sowie Wales heimisch geworden sind. Es gibt kleine Süsswasserquallen vom Amazonas die es sich in Yorkshire bequem gemacht haben. Biberratten, Fasane, Mogolische Rennmäuse.
  5. Ein Meta-Vorschlag: Ich schlage vor, dass jemand mit der nötigen Zeit, Konzentration, Coding-Fähigkeit und Durchhaltekraft (die ich nicht nicht habe) die Website ›soemajet.com‹ einrichtet, das steht für ›SOllte Echt MAl Jemand Tun‹.

Hier geht es zu den Molochronik-Trailern der anderen beiden »Omnivoraciuous«-Gastblogbeiträge von Miéville:

»Fünf Bewegungen auf die man achten sollte« von China Miéville (Gastblogbeitrag 2/3 für »Omnivoracious«)

(Eintrag No. 563; Literatur, Phantastik, Fantasy, Woanders) — Eine kleine Zusammenfassung des zweiten Beitrages von China Miéville bei »Omnivoracious«, wo sich Miéville diese Woche (auch anlässlich seines jüngsten Romanes »The City & The City«) als Gastblogger herumgetrieben hat.

In »Neither a Contract Nor a Promise« erfindet, prognostiziert, spielt Miéville mit der Idee über fünf kommende, wünschenwerte, zu befüchtende Literatur- und Kunstströmungen.

Die komplette Übersetzung könnt Ihr auf der deutschen Miéville-Fansite »www.bas-lag.com« lesen.

  1. Zombiefail ‘09-ism: Der Standpunkt der Autoren wird sein, dass was als Kräftigung (man scheut sich in diesem Zusammenhang von ›Wiederbelebung‹ zu sprechen) eines alten Themas anhob, sich mittlerweile wie ein Virus derart verbreitet hat, dass ihre Allgegenwart in ambulonecrotophilen Kitsch umschlug. Zombies, die einst das kulturelle Unterbewußtsein heimsuchten wie unheilvoller Tadel, haben sich zu knuddeligem Spielzeug gewandelt, zu toten Metaphern (ta-da!) die uns nicht länger in Wallung bringen. Paradoxerweise werden die Zombiefail ‘09-istischen Autoren aus Respekt für die zunehmend herabgewürdigten Zombies entweder diese Banalisierung ausdrücklich mit melancholischem Spott untergraben, oder sich weigern überhaupt über sie zu schreiben und stattdessen aus verschiedenen anderen Mythen verschmähte Monster plündern, an denen die Welt zugrunde gehen kann.
  2. Post-Elegieanismus: Egal ob der Weltuntergang nun eintritt wegen dem Versiegen des Erdöls, dem Ansteigen des Meeresspiegels, der Rache der Natur, wegen Krieg, Kriegsherren, atomarem Weltenbrand oder — D’oh! — einem künstlich gezüchteten Virus, er wird weder schmerzhaft schön, noch eine Moralität sein. Darauf werden die Post-Elegieanisten beharren. Diese grummelige Gruppe literarischer Querdenkender wird verärgert sein über die spärlich getarnte Endzeit-Pornographie der unzähligen, vorgeblich ›trostloten‹ und ›dystopischen‹ (richtig…) Apokalyptik-Fiktionen und -Kulturen. Visionen, in denen verblüffend großartige Eisschollen am Chrysler-Wolkenkratzer vorrübertreiben, mit schwermütig vollmundigen Beschreibungen von Aschelandschaften, und die klumpige Bukolik all der zugewucherten Städte wird so gar nicht nach ihrem Geschmack sein.
  3. HochLit Prätorianer: Dementsprechend wird diese Bewegung fortfahren, jene Aspekte von Fiktionen zu bevorzugen, die, zumindest für einige, das unentbehrliche Ein und Alles der Literatur selbst ist — ein Fest der ›Innerlichkeit‹ und eines bestimmten Protagonistenkonzepts der ›Person‹; eine Prosa, die für sich beansprucht ›sparsam‹ und ›genau‹ zu sein; ein Streben zum Metaphernhorizont, um vollendet irgendeine ›menschliche Wahrheit‹ mittels konkreterer Dinge zu beschreiben (Geschirr, Malfarbe, ein bestimmtes Tier, eine Wetterbegebenheit ect., auf die sich vorzugsweise im Buchtitel bezogen wird); ein Wechselspiel kunstvollen Wiedererkennens und so weiter.
  4. Noird: Weird Noir, ausgesprochen ›Nward‹. Kandidaten für diese Bewegung tauchen bereits auf in Form von Kriminalromanen, speziell solchen des Hard Boiled-Schlages, die durchdrungen sind mit fremdartigen Seltsamkeiten. {…} Du wirst wohl Noird lesen, wenn ein(e) makelhafte(r) Held(in) mit Filzhut ein Tiefes Wesen mit Fragen löchert, Beweisstücke findet, die sich nachdem sie eingetütet und ettiketiert wurden von selbst zu wertlosen Schmuck rekonfigurieren, Tchotchkes und Odradeken; oder der (die) Held(in) erkennt, dass der Mörder ein personifizierter Alptraum einer schleierhaften Komplikation des Alltäglichen ist.
  5. Salvagepunk: Wenn (Walter) Benjamin warnt, dass die historische Geschichte ein Engel ist, der auf einen gewaltigen Schutthaufen starrt, dann ignoriert Slavagepunk den Engel und stöbert im Schutt auf der Suche nach einem Auto das man kurzschließen kann.

Hier geht es zu den Molochronik-Trailern der anderen beiden »Omnivoraciuous«-Gastblogbeiträge von Miéville:

»Fünf Gründe warum Tolkien rockt« von China Miéville (Gastblogbeitrag 1/3 für »Omnivoracious«)

(Eintrag No. 560; Literatur, Phantastik, Fantasy, Woanders) — Anlässlich seines neuen Romanes »The City & The City« verdingt sich der englische ›Weird Fiction‹-Autor China Miéville seit Anfang dieser Woche als Gastblogger bei »Omnivoracious«. Wie schon desöfteren bin ich von Chinas Schreibe so hingerissen, dass ich mich als Übersetzter ins Zeug gschmissen habe.

Erstaunlich, was er in seinem Gastbeitrag zum Besten gibt. Wir erinnern uns: Miéville hat zu Beginn seiner Laufbahn als Autor heftig gegen den Übervater der modernen Fantasy polemisiert (siehe hierzu seine ›klassische‹ Betrachtung »Mittelerde trifft auf Mittelengland« vom Januar 2002). Bei all dem enthusiasmierten High Fantasy-Wahn, der (seit) damals auf der Welle der Peter Jackson-Filme mitgischt(e), war diese stellenweise respektlos tönende, aber durchaus fundierte Kritik eine Linderung für meine nervösen ästhetischen Nerven. — Selber neige ich dazu, zustimmend zu nicken, wenn man an der Vormachtstellung der Tolkien’schen Fantansy-Tradition kratzt, dennoch habe ich mich auch schon mit dem gebotenen Respekt zu Tolkien und seinem Werk geäußert (am bündigsten wohl in meiner Besprechung von Tom Shippeys Buch).

Nun also, einige Jahre reifer, hat Miéville in seinem Beitrag »There and Back Again« fünf Gründe zusammengetragen, weshalb ›wir‹ (Phantastik-, Fantasy & wie ich s auffasse auch Literaturfeinschmecker) Tolkien dankbar sein sollten.

Hier nur auszugsweise Chinas Argumente. Die komplette Übersetzung könnt Ihr auf der deutschen Miéville-Fansite »Bas-Lag.com« lesen.

  1. Nordische Magie: Allzu lange waren die griechisch-römischen Geschichten die fetten Pantheons auf dem Gelände. Zeus hier, Persephone da, Skylla & Charybdis dort, das Rauschen war endlos, und jeder der von Mythen hingerissen war, musste sich anstrengen mal was anderes zu vernehmen. {…} Man vergleiche damit die knotige, herbstliche, blutige Unvorhersagbarkeit der nordischen Geschichten, mit ihren anti-moralischen, schwer zu fassenden Feinheiten, ihren grundlosen und faszinierend-variantenreichen Götterrängen, ihren herzerweichend bizarren Nomenklaturen: Ginnungagap; Yggdrasil; Ratatösk. Aus dieser Tradition hat Tolkien geschöpft und sie glorifiziert {…} Wir wussten schon immer, dass diese anderen Götter und Monster cooler sind.
  2. Tragik: Die letzten Tränen in den Augen der Charaktere und Leser sind nicht solche der unumwundenen Freude. Ja, einerseits gewinnen die Guten; aber andererseits, was für eine Schande, dass eine ganze Epoche ihre Glorie verliert. Die Magie zieht natürlich nach Westen, doch auf eigentümliche Weise wird einer Erzählform abgeschworen, mit dem seltsamen Echo nach der letzten Schlacht, dem Nach-Ende von »Der Herren der Ringe«, der Säuberung des Auenlands, das Peter Jackson sträflicherweise weggelassen hat. {…} die Tragik der schleichend flatterhaften Alltäglichkeit verleiht Mittelerde eine kraftvolle Melancholie, die bedauerlicherweise bei vielem was folgte fehlt.
  3. Der Wächter im See: Sag über ihn was Du willst, aber Tolk fährt gute Monster auf. Shelob, Smaug, der Balrog … mit ihren erstaunlichen Namen, dem furchterregenden Elan ihrer Beschreibungen, ihren unterschiedlichen ungezähmten Böswilligkeiten, sind diese Kreaturen ganz in unsere Weltsicht eingeflossen.
  4. Allegorie: Indem er Allegorien abschwört, weigert sich Tolkien der Haltung zuzustimmen, dass fiktionale Werke eingeengt und präzise auf irgendeine zu reduzierende Art und Weise hauptsächlich, einzig und allein oder tatsächlich ›über‹ etwas anderes oder ›von‹ etwas anderem sprechen; dass die Arbeit des Lesers die eines Code-Brechers ist, dass wir mit dem richtigen Schlüssel einen hermeneutischen Algorithmus anwenden und das Buch ›auflösen‹ können. Tolkien weiß, dass dies sowohl zu plumpen Fiktionen als auch zu klobigen Codes führt.
  5. Zweitschöpfung: {D}er Paradigmenwechsel, für den es auch andere Beispiele geben mag, für den aber Tolkien mit weitem Vorsprung der exemplarische Herold ist, bedeutet eine außerordentliche Umkehrung des Verfahrens, und bereichert das Handwerk des Erzählens um einzigartige Werkzeuge und Möglichkeiten. Die Ordnung ist auf den Kopf gestellt: zuerst kommt die Welt, und erst dann geschehen in dieser Welt Dinge, treten Geschichten hervor.

Hier geht es zu den Molochronik-Trailern der anderen beiden »Omnivoraciuous«-Gastblogbeiträge von Miéville:

China Miéville: »Der Eiserne Rat« und Bas-Lag, oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt

Eintrag No. 379

{Diese Rezension erschien ursprünglich in »Magira 2006 — Jahrbuch zur Fantasy«, Hrsg. von Michael Scheuch und Hermann Ritter.}

•••

Vorweg der Offenbarungseid: Seit meiner ersten Reise zur »Perdido Street Station«[01] New Crobuzons in der ›Weird Fiction‹[02]-Fantasywelt Bas-Lag bin ich von China Miéville (1972) und seinem Schreiben in zappeliger Fan-Manier begeistert. In noch heftigeres Erstaunen versetzte mich die zweite, diesmal maritime Ausfahrt mit »The Scar«[03]. Entsprechend besorgt und her-ausgefordert bin ich deshalb, ob’s mir denn dermaßen heftig infiziert überhaupt gelingen kann, nicht-peinlich über »Der Eiserne Rat« zu schreiben. Immerhin ist Miéville einer dieser Autoren, die Leserschaften polarisieren. Noch vor wenigen Jahren, im Umfeld des Erscheinens von »Perdido Street Station« und »The Scar«, hat Miéville rabaukig über die ›ausgelatschten‹ Touristik-Pfade in tolkienartige ›Fäntäsyländs‹ gemosert.[04]

»Jüngstes Superduper-Genie der anspruchsvollen Genre-Zunft!«, jubeln durch die Phantastikbeete ondulierende Hurra-Schlümpfe wie ich; »›Nett‹, jedoch störend verhunzt durch renitente Marxistenprophetenpolemik«, meinen Skeptiker, und deuten dazu jetzt besonders bei »Der Eiserne Rat« auf die befremdende politische Heftigkeit von Miévilles verdrehter Fabuliererei hin. Später mehr zu diesen ›Vorwürfen‹.

Allein das Kuddelmuddel an Widersprüchen, in die sich Miéville verstrickt, wenn er über die empfohlene Lesereihenfolge der Bas-Lag-Romane spricht: Mal sagt er, dass jeder der drei Bas-Lag-Romane für sich allein genommen ›rund‹ sei; als Text Genuss verschaffen, als Story Substanz, und als Statement Virulenz haben soll. Dann aber nennt er die drei Bücher auch mal locker ›Anti-Tolkien‹-›Anti-Trilogie‹-Trilogie, deren Teile sich in beliebiger Reihenfolge lesen ließen. Und schließlich, dass in der Folge ihres Erscheinens (die auch dem Verlauf der Bas-Lag-Chronologie entspricht) nach »Perdido Street Station« und »The Scar« nun »Der Eiserne Rat« so was wie ein Abschlussstein ist. In mehrfacher Hinsicht wird damit diesem Dritten im Bunde strukturell und programmatisch die Aufgabe aufgebürdet, kulminativer Höhepunkt zu sein. Wurscht, was man sonst über das Fantasy-Genre zu wissen glaubt, sicher ist immer: Der letzte Teil einer Trio lässt die Fetzen nur so fliegen!

Jetzt wäre China Miéville nicht dieser unverschämt talentierte Ideen-Lausbub der er ist, wenn er nicht schon bei der Komposition der Struktur einer Trilogie ›Unsinn‹ anstellte. »Perdido Street Station« und »The Scar« ähneln einander, sind beide noch verhältnismäßig konventionelle Romane. Beide schildern auktorial die Handlung linear von A nach Z. »Perdido Street Station« bietet kleine Intermezzi einer, »The Scar« mehrere Ich-Erzähler-Stimmen, von denen eine auch in längeren Briefauszügen zu Wort kommt. »Perdido Street Station« ist ausschließlich in New Crobuzon (der bratzigsten Industriemetropole der Welt Bas-Lag) angesiedelt und umspannt einen Zeitraum von einem halben Jahr[05]. »The Scar« setzt nur wenig später ein, erstreckt sich über etwa ein Jahr[06] und begibt sich auf eine weite Rundreise durch die östliche Hemisphäre von Bas-Lag mit der schwimmenden ›Gestalt‹-Großstadt Armada (EIN Konkurrent von New Crobuzon beim Rennen um Macht und Reichtum).

Buch drei schlägt nun aus der Art. »Der Eiserne Rat« springt zwischen New Crobuzon und den westlichen Weiten des Kontinents Rohagi hin und her. Es gibt diesmal keine Ich-Erzählerstimme, alles wird aus einer Art auktorialer Vogelperspektive geschildert. Eine lange Rückblende steckt wie ein Fremdkörper im Gewebe des linearen, chronologischen Erzählverlaufs. Der Kernzeitraum der Gegenwartshandlung schildert die Ereignisse eines Jahres[07], die bis zu den Ereignissen der beiden Vorgänger reichende Rückblende aber umfasst einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Obwohl man die beiden Vorgänger nicht gerade als ereignisarm bezeichnen kann, überbietet »Der Eiserne Rat« — das kürzeste der drei Bücher — in fast schon beängstigender Manier die Geschehnisdichte von »Perdido Street Station« und »The Scar«.

Kurzum: »Der Eiserne Rat« ist als Bas-Lag-Einstiegslektüre nur Lesern anzuraten, die als waghalsige Freeclimber ohne Sicherung gern gewillt sind, die schwierigsten Hänge zu erklimmen. Man sollte schon ›einen leichten Schuss‹ haben, oder über so etwas wie ›robuste Lesegeschicklichkeit‹ oder ›Aufnahmeflexibilität‹ verfügen, wenn man mit »Der Eiserne Rat« seine Freude haben will.

Mit einer gewissen ›musikalischen Lesart‹ aber lässt sich diese widersprüchlich daherkommende Trilogie-Partitur als klassisch-dreisätzige Symphonie nehmen. In den einzelnen Sätzen greift Miéville thematisch und bezüglich des Settings auf ein jeweils anderes historisches Vorläufer-Genre der modernen Phantastiksparten zurück. Und jeder der drei Romane beschäftigt sich mit einer anderen Facette zum Thema Magie, die in Bas-Lag größtenteils als Thaumaturgie bezeichnet wird.

So gibt »Perdido Street Station« als urbaner Horrorthriller das Allegro ma non troppo, und ein freischaffender Querbeet-Thaumaturg baut einen Transformator, mit dem sich ›die Macht‹ der allgegenwärtigen Krisis-Energie nutzen lässt. Als Adagio in exile schildert dann »The Scar« eine Entdeckungsabenteuerfahrt von Piraten, und setzt sich anhand arkaner Möglichkeitsmagie mit den quantenphysikalischen Eigenschaften der Thaumaturgie auseinander. »Der Eiserne Rat« darf nun das Finale allegretto extravaganza sein und als großangelegtes, aus den Nähten der üblichen Romanform platzendes Potpourrie dem Eisenbahn-Western seine Referenz erweisen.

»›Once Upon A Time In Bas-Lag‹, mindestens!« könnte ich flapsig trailern. Denn das Superbreitwandpanorama des Romans erzählt davon, wie das Vorankommen eines Dampfrosswundermaschinendings die Entfernungen nichtet; wie einst isolierte Orte durch Schienen vernetzt werden; und dass mit dem Anschluss an das pumpende Herz des monströsen Zivilisationsmolochs New Crobuzon nicht nur Fortschritt, Neues, Nachrichten und lebhafter Handel in einstige Ödnisse strömen, sondern auch Korruption, Ausbeutung, Intrigen, sowie soziale und bellezistische Konflikte. Ganz ähnlich wie in dem melodramatischen Todestanz von Sergio Leone kann man anfangs ‘ne ganze Weile die ungewöhnliche Informationsfülle an Kleinigkeiten und die angespannten Situationen von »Der Eiserne Rat« nur rätselnd mitverfolgen. Da ich glaube, dass die Komplexität und Tiefe des Romans schier undurchschaubar sind, wage ich es, in folgender Inhaltsskizze einige hoffentlich hilfreiche Spoiler zu platzieren.

Nach einem kurzen ›raunend‹-lyrischem Intro über einen Mann, der weiß, dass seine Pläne heilig sind, wird der Leser mitten in die Äktschn des ersten von drei großen Handlungssträngen in den Wald geschickt. Dort erwartet Cutter, ein Ladenbesitzer in den Dreißigern aus dem Gelehrtenviertel, in einer Hahnenkampfgrube seine Revoluzzerkameraden aus dem nahen New Crobuzon. Das Stadtimperium führt Krieg gegen das ferne und quecksilbrig-rätselhafte Tesh. Wie der Krieg losging, weiß niemand mehr so wirklich, sicher ist aber, dass der Konflikt für New Crobuzon bitterer und zäher verläuft, als das herrschende Stadtparlament und dessen Milizia erwartet haben. Die sechs Revoluzzer folgen der Spur des von ihnen allen verehrten, von Cutter sogar sehnsüchtig geliebten Judah, einer Art Guru der Dissidentenszene, der selbst auf der Suche nach dem legendären Eisernen Rat ist. Cutters und Judahs homoerotisch-, tragisch-romantische Liebesgeschichte erzählt von der Asymmetrie des Verlangens, mit für erfolgreiche Fantasy ungewöhnlicher Offenheit und ›Härte‹. Wer Schwulitäten in der Fantasy nicht abkann, sei ein wenig beruhigt. Der diesmal überwiegend knorrige, ›an kurzer Leine gehaltene‹ Sprach- und Szenenrhythmus bewahrt solche Leser davor, seitenlanges Auswalken von Homo-Herzeleid und Sexszenen ›erleiden‹ zu müssen. Alle anderen, denen es wie mir auch piepegal ist, zwischen wem oder was sich eine bewegende Liebesgeschichte abspielt, können Cutters Leiden an seiner eigenen be-dingungslosen Treue zu Judah als gute Darstellung von universellen Problemen lesen, die sich nun mal aus intimer Nähe ergeben. Doch Romanze beiseite, kommt Cutter mit am weitesten herum in der Welt des Romans. Seine ersten fünf Kapitel ist er mit seinen Revoluzzerkumpeln auf sich gestellt. Man reist mal zu Fuß, mal in einem Luftvehikel, mal übers Meer, und es ereignet sich auf diesen ersten 80 von 680 Seiten mehr Äktschn und Hatz, als anderswo im ersten von fünf dickleibigen Büchern.

Der zweite Handlungsstrang begleitet den jungen Dissidenten Ori auf seinem Weg durch die radikale Untergrundszene von New Crobuzon. Zugegeben, Ori vertritt sehr deutlich den Typ des tatendurstigen ›zornigen jungen Mannes‹. Man lernt ihn kennen bei einem außer Rand und Band geratenen Auftritt der Nuevisten, einer Gruppe kritisch-provokativer Agitprop-Aktionskünstler. Ein bissiges Marionettentheaterstück über die Hinrichtung des legendären Volkshelden Jack Gotteshand vor zwanzig Jahren wird gegeben. Ein Zensor der Stadtregierung hat ein wachsames Auge auf diese Michael Moores, und die extrem rechten Schlägerjungs von der Spitzen Feder Partei wollen den linken Provokateuren ans Leder: Tumult, Saloon-, pardon: Vaudeville-Schlägerei par excellence. So cool Ori die kreativen Sticheleien, Aktionen und Happenings der Nue-visten findet, ist er dennoch auf der Suche nach zupackenderen Tatgemeinschaften. Ori hat keinen Bock, seinen Gestaltungsdrang für eine gerechtere und bessere Zukunft mit Diskutierereien zu vertrödeln, und folgt lieber den wirren Weisungen eines alten Fuzzis aus einem Obdachlosenasyl. Dieser irre Alte, Spiral Jacobs, hat Jack Gotteshand noch gekannt und hilft nun Ori, das heikle Initiationsritual der Aktivisten-Zelle von ›Toro mit dem Stierkopf‹ antreten zu können. Nur fair und billig, in heutigen Zeiten die gute alte ›Knappe wird zum Ritter‹-Queste mal mit fanatischen Terrorzellen zu inszenieren (und: dieser Handlungstrang kommt mir zudem vor, wie eine sehr auf den Kopf gestellte Verarbeitung des minoischen ›Minotaurus im Labyrinth‹-Mythos).

Im dritten Gegenwartsabschnitt sind wir wieder mit Cutter unterwegs, diesmal durch die Randzonen des Krieges zwischen New Crobuzon und Tesh. Nach diesen Kriegsgräuel und Flüchtlingsschicksalen folgt die Unterbrechung, die große Synkope der ›Anti-Trilogie‹: Judahs Vorgeschichte, oder genauer, die »Anamnese«[08] vom ewigen Zug. Judah hat vor vielen Jahren als Kundschafter für den visionären Industriekapitän Wrightby das Sumpfland des Stiltspear-Volkes erforscht. Wrightby wollte das Unmögliche schaffen und eine Eisenbahnlinie westwärts quer durch den ganzen Kontinent errichten. Als die Bautruppen den Sumpf erreichten, konnte Judah nichts ausrichten und Wrightbys Unternehmen verdrängt die Stiltspear, wie alles andere, was sich dem Zug in den Weg stellt. Judah versucht verzweifelt, so viel wie möglich von der Stiltspearkultur zu bewahren und zu lernen. Dazu gehört die seltsame Kunst, Zeit zu manipulieren, welche schon Kinder üben, indem sie kleine, ungeschickte Matschmännlein machen. Nach der Zerstörung des Lebensraums der Stiltspear will Judah nichts mehr mit Wrightby und seinem ›Trancontinental Railway Trust‹ zu tun haben, kann sich jedoch dem Sog des Zuges nicht entziehen und bleibt so in dessen wuseligem Umfeld. Hier gibt es nun ordentlich viel Wilden Westen, und mittendrin Judah als Mann vieler Karrieren in den schnell entstehenden und wieder verfallenden Orten am Rande der Gleise, zwischen Kopfgeldjägern, Eisenbahnräubern, Spielern, Duellisten und Streckenbauern. Judah lässt sich auf ein junges wildes Landei ein, Ann-Hari, die sich lebenshungrig als Hure dem Eisenbahn-Tross anschließt. Für einige Zeit gehen die beiden nach New Crobuzon, und Judah beginnt sich intensiv mit Golemetrie zu beschäftigen.

Dieses bewusste Eingreifen in den Lauf der Dinge, diese Unterbrechung und Neuausrichtung von Vorgefundenem ist das magische Hauptthema dieses Bas-Lag-Romans. Judah wird zu einem Genie in der Kunst des thaumaturgischen Formatierens von ›Etwas‹ zu einem meist menschenförmigen Wesen und dem Programmieren dieser Wesen zu selbsttätig handelnden Agenten. Atemberaubend, woraus Judah im Lauf seines Lebens alles Golems macht[09], oder wie er diese Kunst mit Uhrwerken zu Zeit-bomben und Fallen ›verfeinert‹.

Zu den aufregenden Gedankenspielen Miévilles über Golemetrie gehört etwas, das man Judahs ›inneren Moral-Golem‹ nennen könnte. Diese ›Gutheit mit eigenem Willen‹ hat ein alter Stiltspear in Judahs Brust als Abschiedsgeschenk erweckt. Eine bewegende Szene und typisch für Miévilles zerschartete Idyllik: Die Rückmeldung der vom Fortschritt Überrollten ist hier nicht blinde Rache, sondern eine Gabe, die man ›Gewissen‹ nennen könnte. Gäbs ‘ne Hall of Fame für Metaphern, würde ich diesen Moral-Golem in der Abteilung vermuten, in der auch die goldene Kugel aus »Picknick am Wegesrand« der Strugatzki-Brothers ausgestellt wird. Atemberaubend auch, wenn in einem der längeren Großkämpfe des Buches Golemetrie und die am anderen Ende des thaumaturgischen Tat-Spektrums angesiedelte Elementarbeschwörung aufeinanderprallen: Wilde, ungezügelte Begierde von Feuer-, Fleisch- und Mond-Elementardämonen gegen mehrere Golems aus Eisenbahnbestandteilen und einen Lichtgolem.

Ich geh mal die Gefahr ein, als blauäugiger oder unentschlossener Depp dazustehen. Ich kann nicht erkennen, dass der bekennende Trotzkist und ›politische Aktivist‹ China Miéville mit solchen thematischen Melodien über bewusstes Manipulieren und leiden-schaftliches Draufloshandeln dem Leser wie auch immer geartete Propaganda für allgemeine oder extrem linke Programme auftischen will. Alle drei Bas-Lag-Romane führen am Ende ihrer argumentativen Verläufe allerdings zu vielstimmigen Fragestellungen, zu Aussichtsposten auf einschüchternd große und komplexe Probleme. Die Geschichten aus Bas-Lag sind eben kein Manifest und versuchen nicht, dem Leser das ein oder andere DU SOLLST! MANN MÜSSTE! reinzureiben, oder das sich dem menschlichen Komplettverständnis immer entziehende Echtwirklichkeits-Tohuwabohu in griffige Vereinfachungen zu pressen. Freilich werden Miévilles Bücher durch seine persönlichen Interessen und Vorlieben geprägt. So berechtigt eine gewisse Paranoia gegenüber der fabulierenden Zunft auch ist, ›vertraue‹ ich Miéville aber soweit, seine Romane als seine erzählende ›Kür‹ zu verstehen, in der er sich als Weird Fiction-Freak austobt. ›Nebenbei‹ zu seinen Romanen arbeitete Miéville an seiner akademischen ›Pflicht‹ in Form der Abschlussarbeit (über Theorie und Geschichte des Völkerrechts aus marx-istischer Sicht) »Between Equal Rights« an der London School of Economics. Seine Sympathien sind deutlich zu erkennen, wenn man sich z.B. die Milieu-Architektur seiner Dramaturgie anschaut: Die eigentlichen Machthaber, und die sonst oftmals im Zentrum von Genre-Stoffen stehenden Reichen und Schönen spielen meist nur am Rande eine Rolle, die tragenden ›Helden‹ der Bas-Lag-Bücher aber sind Außenseiter, Abweichler, oftmals aus den unteren Gesellschaftsschichten und entsprechend arm und durch’n Wind.

Die kräftigste Einzelillustration Miévilles für die Probleme, die sich aus der Um-zingelung des Menschen durch den Menschen ergeben, sind dabei vielleicht die ›Remade‹ von New Crobuzon. Die Rechtssprechung des imperial-merkantilen Stadt-staates verurteilt ihre Delinquenten zu einer Behandlung in den thaumaturgisch ausgestatteten Straffabriken, in denen die Körper der Verurteilten mit allen Kniffen der Kunst einer meist abartigen Umgestaltung unterzogen werden. Die Umgemodelten sind in den schlechteren Gegenden der Stadt zuhause und bilden neben den Armen und Immi-granten den verachteten und ignorierten Bodensatz der Gesellschaft von New Crobuzon. ›Glück‹ haben dabei noch jene Remade, die speziell für ihre jeweiligen Tätigkeiten als Kampf- oder Arbeitsmaschinen hergerichtet werden, oder als Sklaven in den fernen Kolonien und für andere Großprojekte schuften. Richtig arm dran sind die Remade, an denen sich ihre Richter kreativ ausgetobt haben. Dann werden aus den Verurteilten lebendige Skulpturen gemacht, ihre Körper zu perversen, bescheuert-grausamen ›Sinnbildern‹ der jeweiligen Verbrechen umgeformt.

»Die Moral von der Geschicht?« Na, einer tragischen Kindsmörderin werden halt die Arme ihrer toten Tochter wie Fühler auf die Stirn gepflanzt, oder einem Verräter die Zunge durch ein gefräßiges Meeresvieh ersetzt. Für Liebhaber von Grotesquerie-Revues ist das freilich für sich schon ‘ne feine Monsterparade, doch die Remade sind mehr als nur das: nämlich bitter-brilliante Phantastik über die finsteren Gepflogenheiten in allen Kulturen, wenn eben jene mit Deutungs- und Gestaltungshoheit, wie es ihnen richtig erscheint oder beliebt, Leben, Psyche und Physis der ihnen Ausgelieferten zurechtkneten. Die Utopien vom neuen Menschen (bzw. die Träume vom unverdorbenen Menschen) entpuppen sich in der Welt Bas-Lag als die Schokoladenseite der Untaten, die Menschen einander antun, oder die sich antun zu las-sen sie bereit sind. Doch es gibt auch Remade, die sich auflehnen, die in New Crobuzon untertauchen oder ins Umland fliehen, zu ›fReemade‹ werden, sozusagen Freigemodelte.

Der oben erwähnte Jack Gotteshand[10] wurde in Perdido Street Station als solch ein krimineller Volksheld vorgestellt und hatte dort einen Heldenauftritt[11]. Jack war ein Mann der Tat, der Miliziaspione und Hinterzimmerschreibtischtäter in bester Vigilantenart meuchelte oder bloßstellte, den Reichen Geld stahl und an Arme verteilte. Nach seinem Tod ist die Stelle des Volkshelden vakant, und in »Der Eiserne Rat« geht’s es zu einem Gutteil darum, wie dieser Posten eines hoffnungsspendenden Widerstandsmythos neu besetzt wird. Nachdem Judah und Ann-Hari zum ewigen Zug zurückkehren, verschärfen sich dortz in der Anamnese die Zustände. Nachschub und Lohnzahlungen stocken, die Stimmung lädt sich auf und es kommt zu einer Rebellion der Trosshuren, einiger nichtumgemodelter Arbeiter und der Remadesklaven gegen die Aufseher des TRT. Der ewige Zug macht sich frei von New Crobuzons Kontrolle, flieht westwärts in die Wildnis und wird für die Bewohner von Rohagi schnell zum sagenhaften Eisernen Rat. Als Barde für die Sache des Eisernen Rates wird Judah später wieder nach New Crobuzon zurückkehren und den dortigen Widerstandgruppen vom unerhört erfolgreichen Aufbegehren das sich in der fernen Fremde zutrug berichten. In dieser Zeit wird er Cutter kennen lernen, und sich dann in der zuspitzenden Krise des Krieges New Crobuzon gegen Tesh aufmachen, den Eisernen Rat zu suchen.

Ganz passend empfiehlt Kolja Mensing für Deutschlandradio Miéville als »Begleitlektüre für die globale Katerstimmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts«[12]. Vor allem »Der Eiserne Rat« wendet sich trotz all seiner Vernarrtheit für genrespezifische Steckenpferde eher an eine Fantasy-, Horror- und SF-Leserschaft, die sich bei allem ›Eskapismus‹ gern und heftig mit der Echtweltwirklichkeit konfrontiert, und/oder auch beim geliebten Genre-kram avantgardistischen Anspruch mag. In zwei jüngeren Interviews hat Miéville sein literarisches ›Programm‹ umschrieben:

»Es gibt mehrere Werte — das avantgardistische Fein-gefühl, die realistische Schilderung von gesellschaftlichen Strukturen, ein reißerisches Garn zu spinnen — und es ist unklar, bis zu welchem Maß diese Werte in einem Text miteinander fruchtbar auskommen.«[13]

und:

»Mein Ziel wäre also, genau dieses reißerische Garn zu spinnen, das gesellschaftlich ernsthaft und stilistisch avantgardistisch ist. Meiner Meinung nach ist das doch der Heilige Gral.«[14]

Für mich eine Wonne, dass es Genreautoren gibt, die sich, obwohl sie ihre Leserschaft im Blick haben, dennoch trauen auf ästhetische Gralssuche zu gehen, und nicht ›nur‹ den Markt zu bedienen trachten.

•••

[01] Siehe »Magira 2003«: Besprechungen von Werner Arend (S. 23) und Molosovsky (als Alexander Müller) (S. 91). ••• Zurück
[02] ) Übersetzte ich mir mit ›verdrehte, verrückte, seltsame, befremdende Fiktionen‹. (Nebenbei. Bemerkenswert, daß am ethymologischen Brunnen des Wortes ›weird‹ wiederum drei alte Zauberweiber rumhängen.) Um den Begriff New Weird gabs und gibts in ›der Szene‹ sowohl angeregte wie auch aufgeregte Diskurse. So ganz kann ich auch (noch) nicht nachvollziehen, wie der neue Subgenrebegriff aufkam, aber als einer der ersten die ihn gebrauchten, wird immer wieder M. John Harrisson genannt, von dem Freund China ja bekennender Fan ist. Von Harrisson hat Miéville sich das Ettikett New Weird geborgt und sich selbst und vielen anderen — von denen nicht alle darüber glücklich waren — ans Revers geheftet. Wichtig erscheint mir, daß mit ›New Weird‹ ein Begriff da ist, mit der sich die heutigen Strömungen brauchbar umschreiben lassen, die weniger an die ›klassische‹ (High Fantasy) Phantastik eines J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis, Lloyd Alexnder oder E. R. Eddison anknüpfen, als vielmehr auf Werken von Autoren wie Mervyn Peake, Stefan Grabinski, Bruno Schulz, den jungen H. G. Welles und den Papst des Old Weird H. P. Lovecraft aufbauen. — Die derzeit verlässlichste Auskunft zur ›New Weird‹-Entwicklung gibt Thomas P. Weber in »Fischer Kompakt: Science Fiction« (Fischer Taschenbuch, November 2005), S. 81 ff. Dort heißt es z.B. knapp und einleuchtend über Miéville, daß er »… die Möglichkeiten der SF und Fantasy {und des Horrors. – Molo} zu nutzen {versucht}, um die in einer neoliberalen Welt verkümmerte soziale Phantasie wiederzuerwecken.« ••• Zurück
[03] Siehe »Magira 2004«: Besprechung von Manfred Roth, S. 191. ••• Zurück
[04] Siehe in »Magira 2003« Miévilles ›toughes‹ aber nicht ›roughes‹ politisches Abklopfen des großen Genre-Propheten-wider-Willen Tolkien in »Mittelerde trifft auf Mittelengland«, S. 165., mittlerweile im Netz nachzulesen auf der Bas-Lag-Fansite. — Anbei noch ein Lektüretip: Eine wunderbare lexikalische Analyse und Parodie auf die ausgelatschtesten Spaziergängerrouten in formalistische Fantasyparks liegt mit Diana Wynne Jones »Einmal Zaubern, Torusitenklasse« (Tough Guide to Fantasyland) vor. ••• Zurück
[05] Von Chet (April) bis Thatis (Juni) des Jahres ›Anno Urbis‹ 1779. ••• Zurück
[06] Von Rinden (Oktober) 1779 bis Tathis 1780. ••• Zurück
[07] Von Chet 1805 bis Lunary (Januar) 1806. ••• Zurück
[08] Bedeutet allgemein ›zur Sprache gebrachte Erinnerung‹; medizinisch ›Vorgeschichte‹; liturgisch der Teil einer Messe, in der man der Toten (und besonders der Märtyrer) gedenkt. ••• Zurück
[09] Erde, Fels, Leichen, Giftgas, Schwarzpulver, Schatten, um ein paar Beispiele zu geben. Auch spekuliert Judah, ob sich aus Hoffnung, Angst und Ähnlichem Golems schaffen lassen. ••• Zurück
[10] Jack Half-a-Prayer im Original. Der Spitzname bezieht sich auf Jacks rechten Unter-arm, der durch eine übergroße Gottesanbeterschere ersetzt wurde. ••• Zurück

[11] »Ein versteckter Schlüssel?«, trau ich mal in einer Fußnote drauflos zu spekulieren, denn mit der Story »Jack« reicht China Miéville in seinem Kurzgeschichtenband »Looking For Jake« (»Andere Himmel«, Bastei 2007) ein Zuckerl über diesen legendären fReemade-Rebellen. Darin erzählt ein Mitarbeiter der Straffabriken nach Jacks Tod seine Meinung zu diesem fReemade im besonderen und den Remade im Allgemeinen. Die Kurzgeschichte »Jack« liest sich wie eine grimmig-kritische Meditation über Heldentum und die Sehnsucht nach großen Gestalten und deren typischen ›Trieb‹, ihren wahren Gefühlen um scheinbar jeden Preis gestaltend Ausdruck zu verleihen, also Zeichen und Markierungen in der Welt zu hinterlassen. ••• Zurück

Deutschsprachige Leser frugen, China Miéville hat geantwortet

Eintrag Nr. 328 — Letztes Jahr im Oktober haben die Haberer von Seblons großartiger China Miéville-Bas Lag-Site Interviewfragen gesammelt. Mein großes Idol der zeitgenössischen Phantastik hat sich unserer 33 Fragen mit bewunderswerter Geduld angenommen.


Was gibt es Neues? Es geht…

  • …um den springenden Punkt aller Phantastik;
  • … um das Kreuz mit der Rezeption homosexueller Protagonisten;
  • … um Chinas Begeisterung für Walter Moers »Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär«;
  • … um die derzeitigen Epochenspannungen zwischen sekularen und religiösen Weltbild-Facaden;
  • … um den Wohlklang von ›Blitzbaum‹ und ›Luftgeist‹;
  • …um die vermeintliche Radikali- & Originalität der Techniken literarischer Postmoderne…

… und vieles andere mehr. — Was mich besonders freut: China ließ sich von uns zu neuen Literaturempfehlungen ermuntern.

Alle, die sich ganz allgemein (es geht immerhin auch um Berthold Brecht!) oder besonders als Phantasten für relevant-engagierte und ideensprühende Literatur interessieren, und die Miévilles Werke noch nicht kennen, können sich also hier im »Großen Bas-Lag-Forum-Interview« einen ersten Eindruck über diesen erstklassigen Autoren verschaffen.

Großen Dank und ›Hut ab‹ für Seblon, daß Du trotz Roboti und Klausurenstress die Zeit und Kraft für all die Orga & Fizzelei aufbringst!

»Der Eiserne Rat«: Das Blog-Seminar von Crooked Timber über und mit China Miéville. Deutsche Fassung

Eintrag No. 319 — Nach meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Strange un Mr. Norrell«, kann ich heute meine deutschsprachige Fassung der sechs Essays über China Miévilles »Der Eiserne Rat«, sowie Chinas Reaktion darauf anbieten. Das PDF hat 72 Seiten und ist 1,4 MB groß, und gedacht für alle, die lieber in Ruhe soviel Text aufm Papier lesen. — (Tausend Dank von Herzem dem phantastischen TeichDrachen für seine Servergastfreundschaft.)

Falls der PDF-Link Probleme bereitet, schicke ich es auf Anfrage gern per eMail zu. Zwecks Kontakt: siehe Ende dieses Eintrages (oder auch mein Impressum).

Damals, im Januar 2005 bin durch das Seminar zu »Der Eiserne Rat« auf Crooked Timber aufmerksam geworden und seitdem von diesem wunderbaren Akademiker-Gruppenblog hellauf begeistert. Ich will nicht am Niveau der deutschsprachigen Beschäftigung mit Genre-Werken herumnörgeln (denn soooo seicht ist das gar nicht; man klicke sich entsprechend durch meine Linkliste), hoffe aber doch, daß allen, die sich gerne ausführlicher und ›tiefer‹ mit Phantastik, Literatur und der Beziehungen zwischen Ästheteik und Engagement beschäftigen, hiermit ein weiteres sattes Bonbon geboten wird. — Auch wenn es vermessen klingen mag: Ich fände es superb, wenn dieses Format eines Blog-Seminars mit Beteiligung des Autoren vielleicht auch bei uns Schule macht. Ich würde mir dafür gern einen Haxen ausreißen (mit dem Zaunpfahl wink).

Hier Henry Farrells einleitende Worte vom Januar 2005.

Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.

Einleitung

China Miéville ist einer der interessantesten Autoren auf den Gebieten der Science Fiction und Fantasy. Sein erster Roman König Ratte[1] greift Drum'n'Bass, Max Ernst[2], Robert Irwin[3] auf und ist im zeitgenössischen London angesiedelt. Sein zweites Buch Perdido Street Station[4], ein von Kraft, Witz und grimmiger Wildheit erfüllter urbaner Phantastikroman, hat das Genre im Sturm erobert, und wurde mit dem Arthur C. Clarke Award[5] ausgezeichnet. Wie Michael Swanwick[6] 2002 in der Washington Post schrieb, ist es »ein bischen frech von mir, ein Buch das erst vor zwei Jahren erschienen ist, als Klassiker zu bezeichnen. Doch ich denke, ich befinde mich mit dieser Behauptung auf sicherem Boden.« Sein dritter Roman Die Narbe[7] erhielt vergleichbares Lob. China Miéville gehört zur offiziellen Auswahl Beste Junge Britische Autoren 2003 von Grantas salon de refusés. Zudem engagiert sich China für sozialistische Politik — er kandidierte für das Parlament bei den letzten Wahlen. Das auf seiner Ph.D.-These basierende Buch Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law[8] wird diesen Monat bei Brill Publishers verlegt.

Im August 2004 erschien Der Eiserne Rat[9], Chinas jüngster Roman. Michael Dirda[10] von der Washington Post beschreibt ihn »als ein Werk, daß sich sowohl durch leidenschaftliche Überzeugung als auch höchste Künstlerschaft auszeichnet.« Vor ein par Monaten hat die Miéville-Fraktion von Crooked Timber beschlossen, daß es Spaß machen könnte ein kleines Mini-Seminar über Der Eiserne Rat zusammenzustellen und China zu fragen, ob er darauf reagieren möchte. Äußerst entgegenkommend sagte er zu und das Ergebnis liegt Ihnen hiermit vor. Wir haben zwei regelmäßige Gastautoren eingeladen an diesem Mini-Seminar teilzunehmen. Matt Cheney blogt über Literatur und Science Fiction bei The Mumpsimus und schreibt darüber hinaus für das Locus Magazin[11] und die SFSite[12]. Miriam Elizabeth Burstein blogt unter The Little Professor, unterrichtet über Viktorianische Literatur an der Suny Brockport Universität von New York. Miriam hat im fortgeschrittenen Verlauf dieser Unternehmung freundlicherweise zugestimmt, sich anzuschließen und eine bereits geschriebene lange Besprechung (auf die China sich unabhängig bereits bezogen hat) zu überarbeiten.

Die Essays hier sind in der Reihenfolge angeordnet, in der China auf sie in seiner Antwort eingeht (wer Der Eiserne Rat noch nicht gelesen hat, sollte wissen, daß vom Inhalt einiges verraten wird).

John Holbo beginnt in seinem Aufsatz Für ein einziges Wort… mit Anmerkungen zur Beziehung zwischen Miéville und Tolkien; dann greift er die Auseinandersetzung von Bruno Schulz über Eskapismus und die Fruchbarkeit unbelebter Materie auf, um dargzulegen, daß China sich bei seinem Mitteilungsmodus nicht zwischen politischer Ökonomie und expressionistischen Puppentheater entscheiden kann.

Belle Waring beschwert sich in New Crobuzon: Wenn du es hier um-modeln kannst…, daß die unerbittliche Grimmigkeit von Miévilles urbanen Schauplätzen und das Schicksal seiner Figuren etwas formelhaft sind; er sollte seine Charaktere vorankommen und vielleicht sogar Erfolg haben lassen.

Matt Cheney hat mit Ausgleichende Traditionen… teilweise eine alte Besprechung überarbeitet, in der er meinte, daß Miéville seine Bösewichter etwas realistischer darstellen sollte; er legt seine Gründe dar, warum Miéville das hätte tun sollen, und beschreibt, wie Miéville Pulp- und Avantgarde-Literatur in seinen Werken miteinander versöhnt.

Mein Essay Ein Argument in der Zeit vergleicht Miévilles Neubearbeitung von Historie, Mythos un Revolution mit Walter Benjamins Thesen zur Philosophie des Geschichsbegriffes.

Miriam Elizabeth Burstein untersucht in Aufhebung von Messiasfiguren, wie Miéville Ideen des Märtyrertums und des Messianismus mit der Figur des Judah Low umarbeitet.

Schließlich schreibt John Quiggin mit Vergangenheit (und Zukunft) um-modeln über Der Eiserne Rat im historischen Zusammenhang, und legt dar, wie der titelgebene Zug des Romans sich zu einem Mythos entwickelt der wiederkehrt um uns zu ›retten‹, so wie auch die revolutionären Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts die in Der Eiserne Rat gefeiert werden, weiterhin als Quellen der Inspiration dienen.

Auf all das Vorgebrachte und mehr antwortet China mit seiner Erwiderung Mit einem Sprung sind wir frei….

Dieses Seminar wird unter den Bedingungen einer Creative Common Lizenz 2.0 zugänglich gemacht, wobei gemäß der Gepflogenheiten der angemessenen Verwendung von zitierten Material, die jeweiligen Urheberrechte von Der Eiserne Rat und anderer Werke, nicht verletzt werden.

Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.

— Henry Farrell, Januar 2005.

Zur Übersetzung des Seminars

Wie schon bei meiner Übersetzung des Crooked Timber-Seminars zu Susanna Clarkes »Jonathan Srange & Mr. Norrell«, finden sich die Quellenangaben der angeführten Zitate in den Fußnoten dieser Übersetzung. Zudem habe mir erlaubt, in den Fußnoten diese Übersetzung um hilfreiche Handreiche für deutsche Leser zu ergänzen. Ich hoffe, daß die wenigen Fußnoten der Autoren sich leicht von den Quellenangaben und meinen Handreichungen unterscheiden lassen.

Alle ursprünglichen Fußnoten der Autoren sind wie der Haupttext in normaler Größe wiedergegeben, meine Anmerkungen dagegen wie diese Anmerkung zur Übersetzung in kleinerer Schrift formatiert.

Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.

Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür.

— Alex Müller / molosovsky, Dezember 2006. Korrekturmeldungen bitte per eMail an *molosovsky*@*yahoo*.de richten (Sternchen weglassen)

Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 17. November 2006.

•••

Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist.

•••

1 King Rat (1998): König Ratte, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2003. ••• Zurück
2 Max Ernst (1891-1976): Deutscher Maler und Bildhauer, Surrealist und Dadaist. ••• Zurück
3 Robert Irwin (1928): Amerikanischer Insterlationskünstler. ••• Zurück
4 Perdido Street Station (2000): dt. in zwei Bänden als Die Falter und Der Weber, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2002; sowie als einbändige Sonderausgabe bei Amazon, 2004. ••• Zurück
5 Arthur C. Clarke Award: Seit 1987 verliehener, nach dem Autor von 2001 – Odysse im Weltraum benannter, Preis für den den besten in England erschienenen Science Fiction-Roman des jeweiligen Vorjahres. ••• Zurück
6 Michael Swanwick (1950): Amerikanischer SF-Autor. Miéville hat desöfteren Swanwicks ungewöhnlichen Fantasyroman Die Tochter des stählernen Drachens gelobt (The Iron Dragon’s Daughter, 1993; dt. Heyne 1996). ••• Zurück
7 The Scar (2002): dt. in zwei Bänden als Die Narbe und Leviathan, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2004. ••• Zurück
8 Between Equal Right: A Marxist Theory Of International Law (2005). Liegt (noch) nicht auf Deutsch vor. ••• Zurück
9 Iron Council, 2004: Der Eiserne Rat, übers. von Eva Bauche-Eppers, Bastei 2005. Desweiteren dER. ••• Zurück
10 Michael Dirda (1948): Amerikanischer Literaturkritiker. ••• Zurück
11 Locus – The Magazine Of The Science Fiction & Fantasy Field: Seit 1968 monatlich erscheinendes Fachblatt der SF & Fantasy-Literatur mit Sitz in Kalifornien. ••• Zurück
12 SFSite: Angesehene Kanadische Website die sich seit 1996 der Genre-Phanatstik widmet. ••• Zurück

Vorschau auf Molos Rezis in MAGIRA 2006 (mit Portraits)

Eintrag No. 273

EDIT 23. Aug. 2006:: Um Links zu Portaitgroßansichten und den einzelnen Rezis ergänzt. Fehlerchen gemerzt, um Links zu Büchern ergänzt.

•••

Mittlerweile ist »Magira – Jahrbuch zur Fantasy 2006« erschienen und die einzelnen Rezis (mit Anstandsverzögerung) auch in die Molochronik eingepflegt worden.
Nach meiner ›bösen‹ Rezi zu Tad Williams »Der Blumenkrieg« wollte ich (schon vor dem verständlichen Diss bei SF-Radio) diesmal auf gar keinen Fall von unangenehmen Lektüren berichten. Meckern kann ich zwar, aber es ist so öde. So gibts dieses Mal einen launischen Reisebericht über die seltsamen aber empfehlenswerten Bücher der Saison 2005/2006.
Die ganzen ca. 11.000 Worte sind wieder von Michael Scheuch und Herrman Ritter lektoriert worden (und Krischan Seipp durfte sich mit meinen Portrait-Illus herumschlagen). Hier findet der geneigte Leser das Introdubilo, die Überleitungs-Absätze.
Ich kann mich gar nicht genug bei den Genre-Kollegen und Genre-Freaks in den verschiedenen Foren die ich heimsuche bedanken. So manche Idee, Signatur, Ansichtssache hat mir beim Schreiben dieser launischen Empfehlungen geholfen.

•••

LAUNISCHE ABER AUFRICHTIGE EMPFEHLUBNGEN VON SELTSAMEN & VERWIRRENDEN FANTASYBÜCHERN DER PHANTASTIKSAISAON 2005/2006

»Ich sehe die Rezension als eine Art von Kinderkrankheiten an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, dass die gesündesten daran sterben, und die schwächlichen oft durch-kommen. Manche bekommen sie gar nicht. Man hat häufig versucht, ihnen durch Amulette von Vorrede und Dedikation vorzubeugen, oder sie gar durch eigene Urteile zu inokulieren, es hilft aber nicht immer.«

—Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelheft J« (1718–1732)

—Was macht gute oder schlechte Phantastik aus? Wann sprießen wirklich neuartige Blüten im Garten der Fantasy und wann ist ›Fantasy‹ lediglich ’ne Karotte zum Erwartungsdirigieren und Treuekonditionieren von Konsumenteneseln? Wann wird an bestehende Traditionen erfrischend angeknüpft, und wann werden nur altbewährte Verführungstricks aufgefahren?

—Mensch Molo, lass doch den verkopften Quark und gib’ einfach Bescheid: ist ein Buch die Lappen, die ich dafür hinblätter wert, oder eben nich’? Überversimpelt gesagt, besteht im Beantworten solcher Fragen der Job eines Kritikers. Doch schaut man dazu am besten von einem fixen Standpunkt, z.B. als Torwächter auf die durchkommenden Bücherkarren aus den fraglichen Genregebieten, und lässt die Guten in die Stadtgemeinschaft passieren und weist die Unwürdigen ab; oder soll man versuchen, als Leuchtturmwärter den potentiellen Lesern Orientierungslicht zu spenden? Sicherlich sind solche statischeren Perspektiven auf Literatur und damit auch auf Teilgebiete wie Fantasy berechtigt und nützlich. Aber ich muss gestehen, dass ich mich dafür als zu skeptisch und sprunghaft einschätze, um auf brauchbare Art und Weise als Wache oder Leuchte zu dienen[01]. Ich will also im Folgenden versuchen, eine in ihrer Unaufgeräumtheit dennoch kurzweil-ige Sammelrezension anzubieten[02].

Aus den lebendigeren Gegenden des großen Kontinentes KONVENTIONA berichte ich, wie der geschickte Mythenimpressario Neil Gaiman, ein Konzert veranstaltet, indem er Spinnen Schöpfungslieder singen lässt, und wie Ian R. MacLeod mit Könnerschaft an gute alte europäische Prosatradition anknüpft, um vom ›Unbehagen in der beschleunigten Moderne‹ zu erzählen. Im verstreuten Inselreich AVANTGARDIEN wollte ich nicht versäumen zu erleben, wie China Miéville sein dreiteiliges ›gegen den Genre-Strich‹-Manöver mit rahmensprengender Vehemenz abschließt; und ich bin verblüfft vom artistischen Feinsinn Jeff Vandermeers, nachdem ich mich in seinem verführerischen, kompliziert-verspielten Narrationslabyrinth genüsslich verirrt habe.

Wenn man die üblichen Grenzen zwischen ›Trash‹ und ›Literatuuur‹ mal vergisst, ist es erstaunlich festzustellen, dass hierzulande gescheiter und lustvoller Genre-Fantasy betrieben wird, als man bei übler Laune schlecht reden kann. Da ›geb‹ ich lieber ›Zeitung‹ von einer mir neuen heimischen Fantasy-Hoffnung, und freue mich denn ‘nu auch besonders, wenn Lorenz Jäger für die noble FAZ den ›Schwert aber Nix-Magie‹-Fantasyroman eines jungen Berliner Buch- und Comicautors lobt. Der immer nach neuen Krassheiten gierende Äktschn-Freak in mir nimmt Jägers ›Warnung‹[03], dass

»Niemand dies Buch ohne Verstörung lesen können (wird)«,

hoffnungsvoll als Kauf- und Leseanreiz.

Tobias O Meißner: »DAS PARADIES DER SCHWERTER« –oder: Wenn der Autor auch mit dem Würfel schreibt.

Zur Rezi.

•••

Nach soviel wilden Blutstrudeln, Sprachbrechern und Metaphernriffen entlang der zerfledderten Küsten AVANTGARDISCHER Inseln, nun zu einem Autor, den ich seit Jahren als ›sicheren Hafen‹ zu schätzen weiß, weshalb er in meiner Lektüregeographie an den Gestaden KONVENTIONIAS gelegen ist.

Neil Gaiman: »ANANSI BOYS« –oder: »Die spinnen, die Götter«.

Zur Rezi.

•••

Wie überraschend und erfrischend der Einfluss von älterer oder auch neuerer Mainstreamschreibe für heutige Fantasy bzw. Phantastik sein kann, hat ja auch die vielgelobte Susanna Clarke mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« vorgeführt[04]. Jetzt wäre es natürlich Blödsinn, wenn ich hier in einem Jahrbuch zur Fantasy Werke dafür lobte, dass sie Lesern von ›kanonischer Literatur‹ feine Fantasy-Ausflüge bereiten. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Fantasy-Leser, die ihre Nase bisher gar nicht oder seltenst in alte Bücher gesteckt haben, können sich z.B. vom folgenden Titel anfixen lassen, öfter mal vermeintlich ›angestaubter‹ Literatur ‘ne Chance zu geben.

Ian R MacLeod: »AETHER« –oder: Vom melancholischen Leben im Takt der Maschinen.

Zur Rezi.

•••

Ian R. MacLeod macht keinen Hehl daraus, als junger Mensch von linken Hoffnungen erfüllt gewesen zu sein. Es sei ihm gegönnt, dass er sich als gereifter und desillusionierterer Mensch einer eleganten Verquickung aus Zorn und Melancholie hingibt. Vom ältesten zum jüngsten Autor dieser Sammelrezi: Was kommt dabei heraus, wenn ein Geek mit heftigst lodernder ›Sozi-Inbrunst‹ auf diesen bedrückten Gemütslagen eine kräftige Portion handgreiflicher und spekulativer Äktschn aussäht?

China Miéville: »DER EISERNE RAT« und Bas-Lag –oder: Wenn die ›Weird Fiction‹ revoluzzt.

Zur Rezi.

•••

Nach dem bombastischen Ausflug in die konfliktreiche Globalisierungsgeschichte einer phantastischen Zweitschöpfungswelt schließe ich meinen Reisebericht nun mit einem thematisch nicht minder gegenwartsbezüglichen, bis auf Einschübsel meist indirekter Art gänzlich urbanem Erzählungspuzzle. Der nächste Autor ist auch so einer, der meint, dass man als Künstler sowohl seine art pour art-Haltung pflegen, und zugleich trotzdem zeitgenössisch auf der Höhe sein, und politisch-gesellschaftlich relevante Fiktionen von vergnüglicher Reife zustande bringen kann. Aber schon der Titel dürfte anklingen lassen, dass ›gnostischere‹ Fantasy auf einen zukommt.

Jeff Vandermeer: »STADT DER HEILIGEN & VERRÜCKTEN« –oder: Kalmartentakel und Pilzsporen.

Zur Rezi.

•••

[01] —Vorsicht, nicht die Küste rempeln. ••• Zurück
[02] Darum wissend, dass ich selbst eine Virenschleuder für oben genannte ›Kinderkrankheiten‹ aus dem Reich der Meinungsschieberei bin. ••• Zurück
[04] Gwenda Bond stellt in ihrem Artikel für »Fantasy Goes Literary«
(»Novels with supernatural elements are finding a new readership«)

für Publishers Weekly Einschätzungen von Verlagen und Agenten zu diesem Phänomen vor. ••• Zurück

Sie sind nicht angemeldet