molochronik

»Eine andere Welt« (11) — Kap. IX: Das Reich der Marionetten von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 706Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

IX. Das Reich der Marionetten.

Im Lande der Marionetten ist das Gliedermännchen König. Hegel.

Die Pirouette erfordert den ganzen Menschen, vom Hirn bis zur Fußsohle. Aus Mäulchens Ästhetik.

Die Erklärung dieses Kapitels wird sich finden.

Müde, die Vögel um ihre Ansicht vom Menschen zu befragen, war Schwadronarius eingeschlafen und hatte seinen Ballon von den Luftströmungen forttreiben lassen. Nach einiger Zeit — so ungefähr in der Mitte zwischen einer Minute und einem Jahr — wachte er von einem starken Stosse, den sein Schiffchen erhalten, auf, und sass nicht im unendlichen Raume, wie er geglaubt hatte, sondern auf dem Dache eines Hauses fest.

»Wäre ich auf die Erde zurückgesunken?«, rief er erschreckt, die Blicke umherwerfend, aus. Was er gewahrte, war auch eben nicht geschaffen ihn zu beruhigen, denn von der Höhe des Observatoriums, das ihm der Zufall angewiesen, erblickte er Strassen, Läden, Müssiggänger, Wagen, Karren, kurz alles, was eine Stadt characterisiert. Er versuchte nun sich wieder empor zu schwingen, aber sein Ballon hatte einen Riss bekommen und musste erst wieder geflickt werden. Für’s Erste war also Nichts zu tun, als vor Anker zu gehen; er faltete daher seinen Luftballon zusammen, steckte ihn in die Tasche und stieg durch ein Mansardenfenster, das zufällig offen stand, in das Haus hinein.

Es war eine Wohnung, wie eben alle Wohnungen sind. Schwadronarius kam bis zum ersten Stock ohne Jemanden anzutreffen. Er setzte sein Reise bis zu der Loge des Portiers fort. Dort sah er einen Mann in einem Lehnstuhl sitzen und einen Glockenzug in der Hand halten. In dieser Loge herrschte die bewundernswerteste Ordnung und die vollkommenste Unbeweglichkeit. Vor dem Kamine lag eine schlafende Katze, die nicht einmal mit den Augen zwinkte oder ein Haar ihres Felles regte; eine Uhr zeigte genau die Stunde, ohne dass sich der Perpendikel auch nur leise schwang, geschweige denn tickte oder den Zeiger sichtlich vorwärts trieb. Der Excapellmeister näherte sich dem Portier um ihn zu fragen, wo er sich eigentlich befinde; der wachsame Hüter nickte zwei Mal mit dem Kopfe, kurz und abgemessen, drehte die Augen erst rechts dann links und versank darauf wieder in seine alte Unbeweglichkeit, so dass Schwadronarius trotz allen Bemühungen ihm keine andere Antwort zu entlocken im Stande war. Ungeduldig ging er nach der Haustür, die einem Drucke seiner Hand nachgab und sich, nachdem sie ihn herausgelassen, hinter ihm sogleich von selbst wieder schloss.

Er kam nun auf die Strasse, an deren Ende er ein großes hölzernes Gebäude erblickte mit der Inschrift

THEATER.

Dort war aber weder Casse, noch Controlle, noch Garderobe, so dass er ohne Weiteres in einen leeren Saal trat und sich in einer Loge hinsetzte, in der sich Niemand befand. Plötzlich brannten siebzehntausend Gasflammen, wie durch Zauber angezündet. Da sah er in einer Loge des Amphietheaters ein Gliedermännchen, das zwei Mal in die Hände klatschte und rief: »Anfangen!«

Der Vorhang ging auf, und Schwadronarius sah an den Decorationen, den Anzügen, den Soffiten, dass ein ihm bekanntes Ballett »Die Liebe der Venus« gegeben wurde. Es begann mit einem von Tascgebjrevseb ausgeführten Pas de Trois; die Nymphen wurden von Mäusen, die Cyclopen von Rosskäfern dargestellt, die den berühmten Ambosstanz tanzten, mit welchem der erste Act endigte.

Schwadronarius tat, was Jeder an seiner Stelle getan haben würde; er ging hinaus, um frische Luft zu schöpfen und Erkundigungen enzuziehen. Als er auf den Markt kam, sah er das Gliedermännchen aus dem Amphietheater, welches die Gläser in einem großem Transparent wechselte; alsbald trat Mondlicht an die Stelle des Sonnenscheins.

Zur selben Zeit erblickte der Capellmeister einen Menschen, der auf ihn zukam, und dessen ganze Beschäftigung darin bestand, seine Lorgnette vor die Augen zu halten und sie dann wieder auf die Brust fallen zu lassen. Alle Bewegungen dieses Individuums schienen durch einen inneren Mechanismus geregelt zu werden.

»Hätten Sie wohl die Gewogenheit, mein Herr, mir zu sagen, in welcher Stadt ich mich befinde?«, fragte ihn Schwadronarius sehr höflich, Jener setzte aber seinen Weg fort ohne auch nur die mindeste Notiz von ihm zu nehmen.

Unser Reisender fand, dass die Einwohner dieser Stadt noch gewaltig in der Cultur zurück seien, und betrachtete nun die Gegenstände, die ihn umgaben, mit sorgfältiger Aufmerksamkeit. Der Marktplatz war mit einem Brunnen geschmückt, aber das Wasser, das aus demselben floss, war von Glas nachgemacht und drehte sich um sich selbst, wie das künstliche Wasser einer Tischuhr mit Federn, die einen Brunnen darstellt. Wagen fuhren vorrüber, jedoch nicht weiter als bis zu einer gewissen Stelle, wo sie umkehrten, wieder nach der entgegengesetzten Seite auch bis zu einer gewissen Stelle und so regelmäßig hin und her rollten.

Der Herr mit der Longrette ging in das Theater; Schwadronarius folgte ihm, weil er vermutete, dass der Zwischenact zu Ende sei. Dies Mal fand er alle Plätze besetzt. Elegante Damen ließen ihre Fächer spielen, Andere lächelten beständig, wieder Andere drehten abwechselnd den Kopf, rechts und links. Unter den Männern gähnten Einige, Andere legten den Kopf auf den Arm und schliefen, wieder Andere neigten sich zu ihren Nachbarn.

Das Seltsame bei Allem diesem bestand darin, dass Jeder stets dieselbe Bewegung machte und dieselbe Stellung fortwährend behauptete.

Das Gliedermännchen klatschte von Neuem in die Hände und der zweite Act bekann. Schwadronarius geriet in einen wunderbaren Zustand und schrieb mit folgenden Worten die empfangenden Eindrücke in seinem Tagebuche auf.

Ich ward im Geist entzückt und sah ein Weib, Das tanzte, ganz in Mousselin gekleidet, Mit Gold- und Silbersplittern reich besetzt; Es hatte Flügel an von Silberzindel Und eine Krone auf von Similor.

Vor jener Bühne unten waren Sitze Mit rotem Wollensammet überzogen Und auf den Sitzen thronten Händepaare, Die sonder Augen, Geist und Kunstsinn waren. Das erste Paar trag gelbe Handschuh zierlich. Das zweite Paar glich Menschenpfoten ganz. Das dritte war ein Paar von Krabbenscheeren, Das vierte Schlägel nur von Fleisch und Bein, Die anderen leere Flaschen oder Gläser.

Rings um die Bühne schwangen sich empor Entflammte Greisenherzen, Schreibefedern Und Weihrauchfässer. Unten waren auch Gar sonderbare unsichtbare Tiere; Das Erste schrie gerade wie ein Esel, Das Zweite weinte wie ein saugend Kalb, Das Dritte endlich brüllte wie ein Löwe, Der eine Cigarette raucht dazu.

Kaum war diese Vision — denn eine solche musste es sein — vorrüber, als Schwadronarius eine neue Tänzerin sah. Sie hatte einen Leib von Fichtenholz, Arme von Steinpappe und Beine von Kork.

Der Zuschauerraum füllte sich plötzlich mit Bärtigen und Schnurrbärtigen, welche einstimmig schrieen: »Brava! Vivar due Cachucha

Das Gliedermännchen in der Loge liess ein ›Brrrtt‹ hören, was so viel heissen sollte wie: »Sehr gut!«

Nun trat ein Tänzer auf, dessen ganzer Köprer aus Werg und Baumwolle gemacht war.

Dieser wurde kalt aufgenommen; als aber gleich darauf zwei Tänzer mit Springfedern in den Gliedern erschienen, da kannte der Enthusiasmus keine Grenze.

Das Gliedermännchen schwang sich, wie auf ein Pferd, auf den Rand seiner Loge und rief: »Wunderschön! Genau wie drunten!«

Gleich nachher leerte sich das Schauspielhaus, die Gasflammen erloschen, und als Schwadronarius auf die Strasse kam, war sie öde und verlassen.

»Ich gäbe meinen Titel als Neu-Gott darum«, sagte er, »wenn ich wüsste, wo ich bin und was die Uhr ist. Hätte ich nur Feuer, meine Cigarre anzuzünden; rauchen ist nachdenken.«

In diesem Augenblicke ging Jemand mit einer Laterne vorrüber. — Schwadronaius fragte, was es geschlagen habe; — keine Antwort. Nun wollte er die Cigarre anstecken, da sah er entsetzt, dass die Flamme in der Laterne keine wirkliche Flamme sei. —

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Molos Wochenrückblick No. 41

Eintrag No. 700 — Es freut mich, dass mein für den Golkonda Verlag erstelltes Portrait der Brüder Strugatzki Verwendung findet auf der Website ›Life in the 22. Century‹ von Andreas Reber.

Lektüre / Film: Habe »Unendlicher Spass« zur Seite gelegt, aber nicht abgebrochen. Mir ist was dazwischen gekommen, nämlich die Krimi-Serie »Castle«.

Ich teste immer wieder mal TV-Serien an, und finde da auch so einiges, was ganz amüsant ist, aber es ist schon eine Weile her, dass mich eine Serie so schnell so begeistert hat wie diese ziemlich klassische Krimi-Kiste mit einer Priese Screwball Komödie. — Man nehme ein Pärchen und kehre die Geschlechter-Rollenklischees um: also hier einen selbstverliebten & plapperhaften Thriller-Autor, Rick Castle, dort eine herbe & abgebrühte Kommissarin, Kate Beckett, beide erfolgreich auf ihrem Gebiet, verbandle die beiden in einem Geflecht aus gegenseitiger Faszination und vorsichtiger Distanz und schicke sie los im Gewimmel von New York um Mordfälle zu klären.

Was mich nun unter anderem arg angefixt hat, ist das Metafiktion-Spiel, das die Sendung veranstaltet: Castle begleitet Beckett vor allem deshalb, weil sie seine Inspiration für seine neue Romanfigur, Nikki Heat, ist. Und den ersten Nikki Heat-Roman, »Heat Wave«, gibt es schon in Echt als Taschenbuch, und den habe ich letzte Woche unterwegs schwupps verschnabbuliert. Keine hohe Prosa, sondern ebenso wie Brunetti, Jury und Co schlicht gute kurzweilige Krimi-Unterhaltung. — Die Serie und das Buch zeichnen sich durch flotte Dialoge und geschickt konstruierte Fälle aus. Ein großes Vergnügen.

Netzfunde

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Rüge

  • Der Science Fiction-Podcast Schriftsonar nervt mich ungemein mit seiner platten viel zu langen Elektropampenmusik. Und in der jüngsten, der 40. Ausgabe, fröhnen die Macher einem simpel gestrickten Anti-Intellektualismus, dass die Schwarte kracht, anlässlich des Romans »Anathem« von Neal Stephenson (ca. ab Minute 24:00):
    Michael Schneiberg: Ich fand Umberto Eco immer furchtbar. Für mich ist das ein eingebildeter Bildungsbürger. Kann ich nichts mit anfangen. Und Neal Stephenson, so leid es mir tut, ich liebe ihn für seine frühen Bücher (auch wenn das wieder ein Klischee ist), der entwickelt sich echt zum verdammten Besserwisser.
    F. C. Stoffel: Es hat sich bei mir über die vielen Jahrzehnte, wo ich wirklich schon viel gelesen habe, eine sehr provokante These verfestigt, die ich auch an sehr vielen Science Fiction-Autoren bestätigt sehe, nämlich: richtig gute Schriftsteller dürfen nicht zu intellektuell sein. {…} Autoren dürfen nicht zu intellektuell werden, weil dann werden sie selbstverliebt.

    Allerdings wird in dieser Ausgabe dann auch »Die gelöschte Welt« von Nick Harkaway begeistert gelobt, was mich wieder ein wenig versöhnt mit der Sendung.

Zuckerl

  • Das Blog ›Lost & Taken‹ präsentiert: 19 Alte Bücher-Strukturen.
  • Wieder mal Johann Sebastian Bach, diesmal in Form einer Interpretation mittels Floppy-Laufwerk-Orgel, die in den letzten Tagen im Netz herumempfohlen wurde, unter anderem von Cory Doctorow bei ›Boing Boing‹: Floppy drive organ plays toccata.
  • Will zeigt uns in seinem ›A Journey Round My Skull‹-Blog einige wunderschöne pop-ige japanische Apokalypsen aus den frühen Siebzigern von Takabata Sei: The Collapse of a World Condemned.
  • Wahnsinnsmeldung bei ›Dark Horizons‹: Möglicherweise verfilmt Paul Thomas Anderson als nächstes Thomas Pynchon!
  • Zum Schluss ein Filmchen, eine wüste wilde nicht-sequentielle Aneinanderreihung aberwitziger Szenen, des Künstlers David OReilly. Warnung: nichts für schwache Gemüter oder Menschen, die eng gezogenere Geschmacks-Grenzen haben. Teilweise verstörender und/oder ekliger Inhalt. Dennoch wollte ich diese Gemme nicht unempfohlen lassen.

The External World from David OReilly on Vimeo.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

»Eine andere Welt« (10) — Kap. VIII: Physiologische Verkleidungen von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 699Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

VIII. Physiologische Verkleidungen.

Die Maske wird künftig die Wahrheit sein. Landesgesetz für die Redouten.

Die Larve ist dem Menschen gegeben worden, um seine Gedanken zu offenbaren. Tallerand.

Prospectus.

Schon vor längerer Zeit sagte ein begeisterter Redner: die Masken haben sich überlebt; den Harlekin zernagen die Würmer, den Hamlet bedeckt fingerhoch der Staub, die Saiten der Cither des Minnesängers zerfrisst der Grünspan. — Der Fasching ist seinem Ende nah. Man muss ihn auferwecken, aber ihn moralisch machen.

Was ist ein Maskenball?

Ein Pandämonium von Flitterstaat, eine Sündflut von Trachten, ein Wirbel von Tanz, Intrigue {hier in seiner Bedeutung als dramaturgischer Fachbegriff die ›sichtbare Seite der Ereignisse zeigend‹ gemeint}, Späßen und Langeweile.

Diese Sündflut zu stillen, diesen Wirbel zu dämpfen, dieses Chaos zu ordnen blieb unseren Tagen vorbehalten.

Es gibt keine Intriguen mehr; eben so wenig auf den Redouten {= Kostümball}, wie in den Lustspielen. Diese Lücke muss ausgefüllt werden.

Um das zu erreichen, beabsichtigt der Unterzeichnete, der Maskentracht eine neue Gestaltung zu geben und ihre moralische Würde zu verleihen.

Ehemals sagte man mit verstellter Stimme auf der Redoute zu einer anmutigen Tyrolerin oder Türkin: »Maske, ich kenne dich, du wohnst an der Pomeranzenstraßenecke, eine Treppe hoch, vorn heraus, bei dem Glaser, und heißest Hannchen Zwiebelmeier.«

Es bedurfte außerordentlichen Geistes, um diese Freuden des Maskenballes zu genießen; durch unsere neue Erfindung werden sie Jedem für ein Billiges zugängliches gemacht.

Durch unser System errät man nicht allein die Wohnung, sondern auch das Geschlecht, den Stand und den Character der einzelnen Maske und die Intrigue erhält dadurch eine psychologische Basis. Die Redoute wird zu einem vollständigen Kursus practischer Philosophie. Je mehr sich Jemand verkleidet, desto kenntlicher macht er sich. Meine Maskenanzüge sind doppeldeutig wie das menschliche Herz.

Die Neo-Maskerade wandelt einer bedenklichen Vergnügungen in einer Sittenschule um; ich helfe dadurch einem dringend gefühlten Bedürfnisse ab, und die Nachwelt wird mich noch segnen, weil ich vollständige philosophische Maskenanzüge für den billigen Mietpreis von 1 Rthlr. {= Reichstaler} 10 Silbergroschen bis zu 10 Rthlr. Per Abend liefere.

Schöne Künste und Gewürzkrämer. Parade und Zofe. Krieger und Bürger. Das Haupt in den Wolken, die Füße im Kot. Was sechszehn Ellen Seide decken.

Befleckte Anzüge werden nicht zurückgenommen. Jeder Abmieter ist für etwaige Beschädigungen verantwortlich.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist.

»Eine andere Welt« (9) — Kap. VII: Verkleidete Charaktere von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 693Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

VII. Verkleidete Charactere oder Verkleidungen von Characteren.

Tu' die Maske vor und ich will Dir sagen, wer Du bist. Sprüche Neronis.

Alle Tiere sind mehr oder minder verkleidete Menschen und alle Menschen mehr oder minder verkleidete Tiere. Der kleine Unbekannte.

Verkleidung eines deutschen Perfectum in das Griechische; Doctor Puff erfindet die Philosophie der Verkleidung als Fortsetzung der Philosophie der Geschichte. — Entwicklung dieser von Gas erhellten Theorie.

Puff wollte den ersten Teil von Krack's Manuscript zu Ende lesen und setzte daher seine Lectüre fort.

»… amüsiert, doch fing das Bedürfnis nach einiger Ruhe an sich in mir zu regen. Ich wollte mich eben nach einem Hotel erkundigen, wo ich ein behagliches Zimmer und ein gutes Bett fände, da hörte ich einige Maikäfer davon sprechen, sich nach einem anderen Maskenball in der Nähe zu begeben, die unterseeische Aristokratie kennen zu lernen; die Neugier gab mir neue Kräfte und ich schloss mich jenen an.

Der Türsteher, ein alter Hai, betrachtete mich mit Bewunderung und ließ mich durch, ohne mir eine Eintrittskarte abzufordern. Stolz auf diesen Erfolg trat ich mit vornehmer Haltung ein; es bildeten sich alsbald zahlreiche Gruppen um mich und die Menge drängte sich hinzu, um meine Züge und mein Wesen zu beschauen. Ich machte offenbar Aufsehen. Das setzte mich nun eben nicht in Erstaunen, aber ein anderes Ding überraschte mich und war mir ein seltsames Rätsel. Hatte ich Menschen als Tiere oder Tiere als Menschen maskiert vor mir? Erst gegen das Ende des Balls kam ich darüber in das Klare, als ich eine Wasserratte die Larve abnehmen sah, um ein Glas Maraschino-Eis zu verzehren.

Die Aristokratie hatte nämlich das Princip der Verkleidung modificiert und, statt die Physiognomien anderer Tiere zu benutzen, menschliche Gesichter zu Masken genommen. Nun wußte ich, wehalb ich so großes Glück gemacht; man hielt mich für ein Tier und bewunderte daher die Genauigkeit meiner Verkleidung. Eine zudringliche Eidechse bat mich sogar, ihr die Adresse meines Lieferanten zu geben.

Als ich eintrat, war der Ball sehr belebt. Der in Krystall gehauene Saal hallte wieder von den Sprüngen der Tänzer und der gläserne Fußboden zitterte jeden Augenblick. Elephanten-Sylphen, Bajazzo-Käfer, Bären, Windhunde, Ziehenböcke, Geier gaben sich den Freuden des Tanzes mit solchem Eifer hin, dass die Grotte fortwährend krachte, wie das Verdeck eines scheiternden Schiffes. Das Gedränge und der Lärm wurde aber so stark, dass ich es für geraten hielt, zu gehen und mir Stock und Pfeife in der Garderobe wiedergeben ließ.

Es fehlt mir an der Zeit, meine Betrachtungen zu ordnern, doch kann ich folgende Bemerkungen nicht unterdrücken: Gibt es Menschen in diesen neu entdeckten Reichen, oder haben sich die Tiere jene Masken nur in Folge des Unterganges eines Schiffes verschafft? — Zwiefache Frage, die ich einigen Akademien vorzulegen Willens bin.«


Ziehen wir jetzt dem Präteritum Heureka die griechische Hülle ab und suchen wir Rechenschaft zu geben von den Beweggründen, welche Puff zu dem ehrgeizigen Ausruf veranlassten: »Ich hab's gefunden!«

Puff hatte Krack's Manuscript aufmerksam durchgelesen und sich überzeugt, dass während des Carnevals die Thorheit der Tiere der Thorheit der Menschen nicht nachstehe. Aufmerksam betrachtete er die Zeichnungen, die sein Mit-Gott als Urkundenbuch beigelegt, und sand nun Folgendes.

Er überzeugte sich nämlich, dass der Mensch moralisch den Tieren, deren Abbildungen vor ihm lagen, gleicht.

»Der Mensch«, sagte er zu sich, »hält sich stets für eine Einheit und ist immer eine Zweiheit, seine Physiognomie und sein Character führen beständig Krieg mit einander. Ich will diesen Kampf benutzen, um dem Fasching eine neue Außenseite zu geben.«

Am nächsten Tage hing folgendes Schild über einem Magazin von Maskenanzügen.

Zur selben Zeit ließ er folgenden Prospectus in der ganzen Stadt verteilen.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

»Eine andere Welt« (8) – Kap. VI: Krack’s von Krackenheim Manuscript von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 690Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

VI. Krack’s von Krackenheim Manuscript.

Erstes Capitel.

Sitten. — Bevölkerung. — Gesetzte. — Allgemeine Betrachtungen.

»Ich kann nicht genau bestimmen, wie lange mein Untertauchen währte, da es bedenklich war, meinen Chronometer, wenn auch nur auf Augenblicke, dem Einfluss der Salzflut auszusetzen; irre ich nicht, so dauerte meine perpendiculare {= senkrechte} Flutfahrt drei Tage, denn ich hatte sehr mit dem Zwischenströmungen zu kämpfen und ein Zug Heringe sperrte mir lange den Weg. Nach vielen mühseligen Anstrengungen gelang es mir endlich, ihn zu durchbrechen, und ich ruhte nun auf einer Austerbank aus, wo ich frühstückte. Dann setzte ich mit frischen Kräften meine Flutfahrt fort und befand mich, als ich am Morgen des dritten Tages meine Berechnungen und Messungen anstellte, fünftausend Fuss tief unter der untersten Schwimmschicht der Walfische. Hier landete ich gleichsam auf einer Bank von feinem Sande und stellte meine in Unordnung geratene Toilette wieder her. Große Mühe machte mir meine Frisur, in der sich unzählige noch unbeschriebene Mollusken und viele den überflutlichen Naturforschern noch gänzlich unbekannte Muschelarten, die ich in einem besonderen Werke mit illuminierten Abbildungen zu beschreiben gedenke, festgesetzt hatten. Kaum war ich damit im Reinen, als ich auch schon eine große Menge von Bewohnern dieser hydrogenen Regionen um mich versammelte und mich mit seltsamen Grimassen zu meiner nicht geringen Verwunderung begrüßte. Später erfuhr ich, dass das Meer gerade seinen Fasching feiere und dass die Maskenfreiheit dieses eben nicht sehr artige Benehmen gestatte.

So viel ich mich bis jetzt zu überzeugen im Stande war, ist der Meerboden bevölkern, wie der Erdboden; die Symbolik des Mythos der Nereiden liess das schon lange ahnen. — Götter gibt es jedoch nicht mehr ihm Ocean. Proteus hat, zufolge eines Auszuges aus dem Kirchenbuche von Ichthyopolis, dem ehemaligen Fischanz, bereits am 31. Poseideon der letzten Olympiade alten Stils das Zeitliche gesegnet, und Thetis ist vor Alter kindisch geworden. Nur aus ehelicher Treue allein findet sich Helios bewogen, täglich nach seiner Ausfahrt zu ihr zurückzukehren und das feuchte Lager mit ihr zu teilen, was seinem Character als Ehemann große Ehre macht.

Die Sitten der unterseeischen Völker scheinen mir sehr sanft zu sein. Selten erhebt sich ein Streit unter ihnen. Meiner Ansicht nach hat ihre Religion große Ähnlichkeit mit dem Neo-Paganismus, doch habe ich unter ihnen Fische mit Bischofsmützen bemerkt. Eine Bande Musikanten, die auf Seemuscheln bliesen, unterbrach mich plötzlich in meinen Beobachtungen, da sie die Luft mit ihren Tönen erschütterten. Sie befanden sich an der Spitze eines ungeheueren Zuges, der sich bei mir vorüber bewegte; es war das Geleite des Fastnachtsochsen, von dem ich hier eine Abbildung beilege. Sein Gefolge war höchst geschmackvoll angeordnet und befand aus verkleideten Tieren, welche die für den Menschen leckersten Schüsseln aus ihrem Reiche darstellten. Der Ochse selbst kam von den Weidenplätzen des alten Nereus, des ehemaligen Viehmästers der Herden des Neptun. Folgendes Programm ward dazu ausgegeben.«

Programm.

In Erwägung der Schwere des Festochsen werden alle Straßen, durch die der Zug geht, dreifach gepflastert sein.

Der Fastnachtochse nimmt seinen Zug von dem Suppenmarkte nach der Austernstraße, von da durch die Rotweingasse und die Weißweingasse nach der Champangnerstraße; Halt wird gemacht auf den Puddingplatze, vor dem Würstchenschlosse und vor dem Hause des Präsidenten der Kochkunst, Excellenz, Großkreuz des Hausordens u. f. w.

Herr Cervelat, einer der ausgezeichneten unterseeischen Mäster, der zum zwanzigsten Male diesen Zug leitet, ist darauf bedacht gewesen, ihn diesen Fasching ganz besonders auszuschmücken. Der Siegeswagen, in welchem er seinem Zögling folgt, ist ganz mit Perlenmutter ausgelegt. Der Gott Romus sitzt auf dem Bock, Neptun und Amphitrite Herren Cervelat gegenüber und Najaden und Tritonen umgeben das Fuhrwerk.

Diejenigen geehrten Feinschmecker, welche ein Beefsteak von dem Festnachtsochsen zu haben wünschen, werden gehorsamst ersucht, sich eigenhändig in den Listen einzuzeichnen, welche bei dem Restaurator Herrn Lendenbraten ausgelegt sind, woselbst auch täglich von 7 Uhr Morgens bis Mitternacht delicate frische feine Hirnwurst mit Trüffeln zu haben sind.

Anordnung des Zuges.

Der Zug verlässt die reichen Magazine des Herrn Kochgut, um sich zu den unterseeischen erwählten Magistratspersonen zu begeben. Die Stopfer, Nudler, Mäster, Züchter, Führer, Käufer, Vorleger, Esser u. f. w. Abgerechnet: besteht aus folgenden Mitgliedern:

1. Fasanierter Hase. 5. Bekrümelte Ente. 9. Kapauniertes Wildschwein.
2. Umgefischte Gans. 6. Gehechtete Kriechente. 10. Gebratener Schwein-Truthahn.
3. Gelachster Hummer. 7. Turtel-Schnecke. 11. Ente mit Oliven.
4. Rebhuhn mit Krebsschwanz. 8. Gebackener Frosch. 12. Reh mit Hahnenkamm.

»Da auf der Erde Tag war, so erhellen hier unten Fackeln den Zug. Bei sinkender Nacht begann die Morgenröte zu erscheinen und nun eilte alles auf den Ball, welcher in einer azurnen Grotte mit Perlmuttermauern statt fand, deren von den zurückgeworfenen Strahlen der Sonne beschienene Stalactiten wie goldene Kronleuchter glänzten. Die Tiere trugen eben so einfache wie geschmackvolle und malerische Maskenanzüge. Ein junges sehr zartes Lamm eröffnete den Ball mit einer schon etwas altlichen Frau Panther; dieses Paar, das kaum auf den Pfotenspitzen walze, fesselte ziemlich lange meine Blicke. Dann werde ein reizender Contretanz von Affen und Affeninnen, die wie Windspiele frisiert waren, aufgeführt und diesem folgte eine Menuet voll Anmut und Bescheidenheit.

Ein Fuchs tat sehr schön mit einer Henne und ein kokettes Rebhuhn wußte trefflich einen von seinen Reizen hingerissenen Wachtelhund zu beschäftigen. In einem nicht sehr erleuchteten Seitengage machte ein Bär einer Scholle den Hof und bot ihr seine Equipage an, um sie nach Hause zu begleiten; ein Hahn verfolgte eine Löwin so heftig mit seinen Liebesanträgen, dass sie sich kaum zu retten wusste, und eine Gazelle schleifte einen jungen Tiger, ihren Geliebten, den sie bei einem Stelldichein mit einem Windspiel von der Oper überrascht hatte, an den Haaren fort. Überall herrschten Freude, Lust, Scherz und Lebendigkeit.

Ein allgemeines Lärmen verkündete das Ende des Maskenballs die feineren Besucher waren schon lange fort. Viele schliefen, Andere schwatzten, Viele waren unwohl; man hätte glauben sollen, auf der Erde zu sein. Den Bechluss machte ein Charactertanz, den ein junger Enterich mit einer jungen Ohreule aufführte und welchem der schon bejahrte Gatte der Letzteren, wenn es nicht ihr Vater war, was auch möglich ist, gravitätisch zusah. Nie habe ich mich so sehr …«

Hier unterbrach sich Puff plötzlich im Lesen und rief: »Heureka!« …

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

»Eine andere Welt« (7) – Kap. V: Der Fasching in der Flasche von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 684Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

V. Der Fasching in der Flasche.

Alles ist in Allem. Axiom eines Hegelinaers.

Die Unendlichkeit des Meeres gefällt der Unendlichkeit des Gedankens. Staberle.

Die Kutte macht den Mönch. Aus dem Vighmara Redasastra.

Man wird die Notwendigkeit dieses Kapitels erst später einsehen, jedoch den Keim der Philosophie der Verkleidung, welche die Fortsetzung der Philosophie der Geschichte bildet, jetzt schon darin entdecken.

Puff war zu sehr Neugott, um nicht zu wissen, dass sich Nichts leichter abnutzt als der Erfolg; daher sann er auch schon darauf, etwas Neues zu erfinden, das seine gegossenen Musikanten vorteilhaft ersetzen könnte. Von tausend verschiedenartigen Ideen durchkreuzt, wandelte er am Strande des Mittelmeeres einher und fühlte in seinem Gehirne — der freundliche Leser gestatte uns die Metapher — die Flut und Ebe wechseln, die er zu seinen Füssen erblickte. Siehe da! Plötzlich trugen die schaumgekrönten Wogen, die Jungfrauen mit dem weissen Perlenschleier, eine Flasche auf ihren siegreichen Armen daher, die einem armen Gefangenen glich, der sich der Wut der Feinde preisgegeben sieht, und ihn um Hülfe anzuflehen schien. Der Doctor war menschlich genug, um in diesem Augenblicke zu bedauern, dass er kein Wasserhund sei, seo ein tüchtiger Neufoundländer nämlich. Die Flasche fuhr indessen fort, ein Notsignal nach dem anderen zu geben. Glücklicher Weise ward sie von einer starken Welle gepackt und auf den Strand geschleudert.

Als er sich nun der Schiffbrüchigen näherte, um ihr seine Hülfe angedeihen zu lassen, die ihr Zustand erforderlich machte, las Puff zu seiner eigenen Überraschung folgende Etikette, welche die Ohnmächtige auf ihrem Herzen trug.

Ich ersuche jeden, der mich auffischt, mich baldmöglichst an folgende Adresse gelangen zu lassen.

Sr. Hochwohlgebohren

Herrn Dr Puff, Neugott.

Franco. Zerbrechlich.

Überall.

Krack's Andenken und die Erinnerungen an seine unterseeischen Versprechungen stiegen jetzt vor der Seele seines Kollegen auf. Er nahm die Flasche in die Arme und eilte nach Hause unter den Ausrufungen:

»Ist es möglich! Kann ich meinen Augen trauen! Er ist es! Der Teuere, schmerzlich Vermisste!«, und was dergleichen Redensarten mehr sind, deren man sich bedient, wenn man tun will als zweifelte man an einer ausgemachten Sache.

Es war möglich! Er war es, der schmerzlich Vermisste; Puff durfte seinen Augen trauen; es war Krack, der seinem Freunde eine unterseeische Depesche sandte. In einer Kapsel, die an der Flasche befestigt war, befand sich ein Manuskript, das wir uns bemühen wollen, dem ungeduldigen Leser zu entziffern und vorzulegen, denn wir können uns denken, mit welchem Heißhunger derselbe eine Nachricht von seinem alten Bekannten, dem Rittmeister, Ritter vieler hoher Orden, Professor der Reit-, Fecht-, Schwimm-, Turn- und Tanzkunst, Krack von Krackenheim, Krackmandelscher Linie auf und zu Krackendorf erwartet.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Molos Wochenrückblick No. 33

Eintrag No. 683 — Diese Woche wieder nur wenig Links, weil: Viel Dienst. Viel Schnee. Entsprechend erschöpfter Molo, der zu wenig gekommen ist.

Immerhin bin ich aber dazu gekommen, zu bemerken, dass ich schon lange nicht mehr bei ›Wer ist Dir lieber?‹ abgestimmt habe. Hier meine Entscheidungen zu den Alternativen der letzten Wochen. — Picasso oder Dali?: Ich bin ein Salvador-Män. — Scarlett oder Rhett?: Ich mag 'se beide nedd. — Äpfel oder Birnen?: Hmmm, ähhh, also, tja, ich nehm Äpfel. — Beatles oder Stones?: Das ist leicht. Die Beatles. — Tatort oder Notruf 110?: Hab keinen Fernseher. Kenne beide Serien nicht gut genug um eine kompetente Entscheidung treffen zu können. — Nikolausi oder Osterhasi?: Aberglauben ist mir Worscht. Also: Weder noch.

Lektüre: In den letzten zwei Wochen haben drei Bücher den Fortgang meiner langfristigen Lektüren — Arno Schmidts »Zettel’s Traum« und Mervyn Peakes »Der Junge Titus« — unterbrochen.

»Raumanzüge & Räuberpistolen« der Lesebühne Schlotzen & Kloben.Erstmal bedanke ich mich für das Rezensions-Exemplar von »Raumanzüge & Räuberpistolen« der Berliner Lesebühne Schlotzen & Kloben (die da sind: Jasper Nicolaisen, Jakob Schmidt & Simon Weinert). In diesem schönen Bändchen des Shayol-Verlages sind neun Kurzgeschichten versammelt von denen ich bisher sechs verköstigt habe. Ich muss gestehen, dass ich Bücher meiner unmittelbaren ›Konkurrenten‹ (also Autoren meiner Generation & Sprache, die sich im gleichen Genre-Feld wie ich tummeln) immer besonders kritisch lese: Im Falle von Schlotzen & Kloben kommt dazu, dass ich meine instinktive Abneigung gegen Berlin-Schick überwinden musste (wenn mich z.B. flockig eingeflochtene Lokalbezüge nervten). — Um so mehr freut mich, dass ich mit dem bisher Gelesenen etwas anfangen kann. Vor allem »Mr. Swift« von Jakob Schmidt gefällt mir, eine feine Hommage auf klassische Seefahrer-SF, in der es einen Naturforscher auf einen von Öko-Piraten navigierten Walkalmar verschlägt. — Auch den abstrus rotzig-poetischen Text »stachel« von Simon Weinert fand ich mehr als interessant, wenn der verliebte und schnupfengeplagte Tod in einem Zug in die Ewigkeit unterwegs ist. — Ich hoffe, ich kann noch eine eigene Besprechung anbieten. Hier aber schon mal die ausführliche Empfehlung von Ralf Steinberg für ›Fantasyguide‹.

»Die Monkey Wrench Gang« von Edward Abbey illustriert von Robert Crumb.Dann habe ich seit dem Wochenende flott die ersten 150 von ca. 500 Seiten des Sabotage-Klassikers »Die Monkey Wrench Gang« von Edward Abbey verschlungen (erstmals 1975 erschienen und seitdem Anregung für viele Öko-Aktivisten). Allein schon, was für ein wunderschöner Band das geworden ist, den der junge Schweizer Verlag Walde & Graf da vorlegt ist eine Wonne, präsentiert sich der Band doch mit solider Bindung und den Illustrationen von Robert Crumb, die dieser für die US-Jubiläumsausgabe 1985 gestaltet hat. — Die Story ist im Grenzland von Utah und Arizona am nördlichen Grand Canyon angesiedelt. Drei ausgewachsene Individualisten, und eine Individualistin verschreiben sich der guten Sache, und machen sich auf, der Maschinenmacht der die Natur umkrempelten Technokraten eins auszuwischen. Wie es sich für einen guten Sabotage-Abenteuer-Garn gehört, beginnt das Buch damit, dass die große Brücke beim Glen Canyon Staudamm in die Luft fliegt.

»Player One« von Douglas Coupland.Schließlich habe ich in eineinhalb Tagen den neuen Roman von Douglas Coupland »Player One – What Is to Become of Us« weggeschlürft. Der Roman erzählt von fünf Stunden, die vier Menschen und eine mysteriöse Stimme in einer Flughafen-Lobby miteinander verbringen, während gerade die Zivilisation wie wir sie kennen zusammenbricht, als der Ölpreis rasent schnell ins Unermessliche steigt. Während draussen das Chaos herrscht, alles mögliche explodiert, und Irre anfangen herum zu ballern, vertreiben sich Karen (war unterwegs um ein Internet-Date zu treffen), Rick (glückloser Barkeep der Flughafen-Lounge), Luke (Pastor, der mit der Kasse seiner Gemeinde durchgebrannt ist) und Rachel (ein autistisches Mädel, dass sich Fortpflanzen möchte um ihren mürrischem Vater zu beweisen, dass sie kein Alien sondern doch ein Mensch ist) die Zeit miteinander. — Leicht negativ aufgefallen ist mir, dass Coupland einige Ideen & Aphorismen seiner bisherigen Bücher recycled, aber sooo schlimm ist das nicht, denn es handelt sich um durchaus verbreitungs- und wiederholungswürdige Gedankenblitze. Abgeschlossen wird der Band durch ein Glossar seltsamer Einsichten zum Leben in der heutigen Welt. Wie immer ein großer Lesespaß für mich.

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Zuckerl

  • Ich eröffne die Zuckerl mit ekliger Natzurkunde. Ich bossle ja immer noch an meinem Eintrag zu allen vier »Alien«-Filmen und freue mich also, Euch etwas Realweltliches anbieten zu können, was dem Alien-Reproduktionszyklus gleichkommt. — In folgendem Filmchen berichtet Insektenforscher Mark ›Doctor Bugs‹ Moffett davon, wie er eine Dasselfliegenlarve in seiner Hand ausgebrütet hat.
  • »Robot Chicken: $tar Wars« Episode I und Episode II. — Mein Favorit ist der Anwalt Sam Goldstein aus Episode II; er verhilft Jedi-Opfern zu satten Schadensersatz-Zahlungen.
  • Hübsch grauselig ist Die Kunst von R. S. Connett, der eine interessante Mischung aus abstoßenden Groteskerien und naiven Putzigkeiten bietet, z.B. mit seinen Gemälden The Harvester of Dreams; — Night Trawler; — The Bone-yard Walk.
  • Molos bestes Ergebnis.Ich komme nicht umhin, mal etwas vom ollen SpOn zu empfehlen. Ist aber auch zu doll, dass die nun ein Trivial Pursuit anbieten. 6000 Fragen, und zum Teil biedern die sich ganz schön dem Zeitgeist an. Ich bin allein über drei Fragen zu Tolkien und LOTR gestolpert, und über vier zum Thema Dracula und Vampire. — Hier ein Bildschirm-Photo meines besten Durchganges (hatte ich aber großes Würfelglück, um in 16 Zügen alle sechs Eckchen zu sammeln und das Masterfragenfeld zu treffen).
  • Zum Abschluss möchte ich die bezaubernden Animationen von PES vorstellen. Hier geht es zu seinem Youtube-Kanal (leider hat’s dort blöde Werbung). Die drei Filmchen, die Ihr Euch auf jeden Fall gönnen solltest, sind KaBoom!, Game Over und mein Favorit: Western Spaghetti.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Molos Wochenrückblick No. 32

Eintrag No. 682 — Diese Woche mal mehr Kunst, Literatur & Zuckerl und weniger Politik & Religionskritik. Privat tut sich nicht so viel. Ich bossle an meinem Eintrag zu den »Alien«-Filmen, & übersetzte Texte aus dem Amerikanischen. Beobachte misstrauisch, wie die Sonne an einem Tag bei niedrigen Temperaturen scheint, am nächsten Tag der Schnee bei noch nierigeren fällt, am übernächsten wieder alles wegschmilzt, als ob nichts gewesen wäre. — Die Enten am Main scheinen in den Wintermonaten von Jahr zu Jahr übermütiger zu werden, was ich ganz allgemein für ein gutes Zeichen halte, es fragt sich nur, ob es auch ein gutes Zeichen für die Menschheit ist.

Lektüre: Wie gehabt, Mervyn Peakes »Gormenghast« und Arno Schmidts »Zettel’s Traum«. Bei Schmidt bin ich mit dem ersten Teil von sechs durch und schnitze nun an meinem zweiten Lesebericht. — Neu hinzugekommen sind Comic-Sammelband 2 und 3 der achten »Buffy«-Staffel, sowie »Leibnitz - Leben, Werk, Lehre« von Kuno Fischer. Letzteres natürlich angeregt von Stephensons »Barock-Zyklus«, in dem Leibnitz eine wesentliche Rolle spielt. Unterwegs genieße ich seit einigen Wochen die englische Hörbuchfassung und hörte am Wochenende zum Beispiel die wunderschöne Stelle aus dem zweiten Band »The Confusion«, wenn Leibnitz den jungen Mathematiker und Newton-Adepten Fatio durch die Bibliothek von Schloss Wolfenbüttel führt, ihm ein Bücherrad zeigt und dabei die Unzulänglichkeiten linearer Ordnungssysteme erklärt

Netzfunde

  • Friedhelm Rathjen erzählt für ›Die Zeit‹ davon, wie es damals war, als »Zettel's Traum« als Faksimile-Druck erstmals erschien: PoePos Trauma.
  • Gigantische Neuigkeit. Eines der besten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe, war die englischsprachige Ausgabe von Wu Ming: »Manituana«. Wu Ming ist ein italienisches Autorenkollektiv, das vor Jahren unter dem Namen ›Luther Blissett‹ auch in deutschen Landen beachtlichen Erfolg mit dem in der Reformationszeit angesiedelten Agenten-Thriller »Q« verbuchen konnten. Ich verstehe absolut nicht, warum kein deutscher Publikumsverlag sich für die nachfolgenden Romane dieser dollen Autoren zu interessieren scheint. — Der obige Link bringt Euch zu Umsonst-Versionen von »Manituana«, dem ersten Teil eines Triptychs über die Heraufkunft der modernen Welt, in dem das Dreieck Nordamerika, Europa und Afrika die Schauplätze sind. In »Manituana« wird die Anfangsphase des amerikanischen Unabhänigkeitskrieges geschildert, größtenteils aus der Sicht der Bewohner der Six Nations, besonders aus der friedlich sich miteinander vermischenden Indianer und englischen Kolonisten.
  • Die Entwicklungen um Wikileaks interessieren mich natürlich auch, aber statt selbst etwas zu kommentieren, beschränke ich mich diese Woche darauf, auf die Übersicht Wikileaks und die Pressefreiheit von ›Perlentaucher‹-in Anja Seelinger hinzuweisen.

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

  • Frohe Kunde erreichte mich über den für 18. Januar 2011 angesetzten Neustart der Bibliotheka Phantastika. Sehnlichst vermisst habe ich neue Rezensions-Einträge. Ich freue mich schon sehr darauf, was das neue Team bieten wird. Erstaunlich finde ich, wie professionell allein schon der Trailer ist. Immerhin ist die BibPhant eine private Unternehmung und kein Marketing-Heckmeck.
Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Wortmeldungen

Rüge

Zuckerl

  • Naturkunde von ›National Geographic‹ Ten Weirdest New Animals of 2010: Editors' Picks.
  • Hübsch unheimliches Online-Comic auf der flickr-Seite von Aeron Alfrey:Junji Ito: Thing That Drifted Ashore.
  • Zwei irre Link-Tips von Harald S. haben mich erreicht (1000 Dank dafür!): Einmal die steampunkig ausgestopften Tiere der Künstlerin Lisa Black; — und zum zweiten absolut beunruhigend grotesken aber auch faszinierend schönen Möbel-Kreationen von Michel Haillard.
  • Mein Vergnügen erregt der Künstler Rob Sato, weil er Phantastik jenseits der glatten Marketing-Formeln bietet. Auch so einer, der ein geeigneter Bas-Lag-Illustrator wäre.
  • Auch diese Woche wieder ein Daddel-Tipp aus dem ›Newgrounds‹-Fundus: Zombie Trailer Park. Ich schaffe einfach Stage 4 nicht.
  • Zum Team des wunderbaren ›That Guy With The Glasses‹-Portals gehört ›Spoony‹, dessen Filmverrisse mir bisher ab und zu schon ganz gut gefallen haben, aber nun hat er sein erstes Meissterwerk abgeliefert, indem er furchtlos »Highlander: The Source« auseinander nimmt.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Molos Wochenrückblick No. 31

Eintrag No. 680 — Bald schon Mitternacht, aber noch istDienstag und damit nicht zu spät für einen Wochenrückblick. Diese Woche wieder mit Links..

Lektüre: Zehn Seiten noch in »Zettel’s Traum«, und ich bin mit Teil I (»Das Schauerfeld oder die Sprache von Tsalal«) von VI fertig und damit bei Seite 138 von ca. 1500. Ich kann sagen, dass ich (immer noch) vergnügt vor mich hinlese.

Sehr fein finde ich, dass die ›Arno Schmidt Stiftung‹ mittlerweile mit dem »Zettel'sTraum«-Beispielheft ein nützliches PDF anbietet, in dem präsentiert wird, was typographisch in dem Buch an spannenden Dingen abgeht. Unvermeidlich werden einem dabei natürlich einige Beispiel-Seiten geboten, anhand derer man sich als Unbedarfter mal angucken kann, wessen Wahnsinns kesse Beute Arno Schmidt wohl war, als er ZT geschaffen hat. Ich habe ja weniger meinen Spaß damit, »Zettel’s Traum« als Mega-Kreuzworträtsel anzugehen, sondern eher auf eine Art die …

… die auch Denis Schenk erfrischend schildert, wenn er sich als »Zettel'sTraum«-Veteran outet, und für »Druckfrisch« dieses Trumm empfiehlt. Wunderbar respektlos (respektlos, wie es nur echte Fans sein können / dürfen) meint er nicht ganz unrichtig:

Es (= »Zettel'sTraum«) ist ein typisches Produkt der fortschrittsgläubigen Moderne, man könnte auch sagen eines typisch männlichen Wer-pisst-am-höchsten-Denkens in der Kunst.
Dank an Markus M. für den Hinweis!

In eigener Sache: Frank Weinreich bespricht für sein ›Polyoinos‹-Blog Simon Spiegels »Theoretisch Phantastisch« sehr begeistert und findet sogar nette Worte zu meinen Illustrationen. Das macht mir Mut!

›SchönerDenken‹ hat mit »Der Maulwurf in der digitalen Welt« nun ein Potpourri aus den Beiträge ihrer Moleskin-Blogparade (bei der ich auch mitgemacht hatte) zusammengestellt.

Netzfunde

  • Christenschande: Frohe Botschaft (=Fantasy) offenbaren, aber widerliche Wirklichkeit unter den Teppich kehren (wenn ’se der eigenen Firma schaden könnt): Thorsten Stegemann hat für ›Telepolis‹ mit Vertuschen im Namen des Herrn über das Gutachten betreffs der Missbrausfälle in der Erzdiözese München und Freising berichtet. — Für die ›Junge Welt‹ hat Gerd Feldkamp das »Violettbuch Kirchenfinanzen« von Carsten Frerk gelesen: Glaube und Geldgier.
  • InfoWarScharmüzel: Ines Kappert kommentiert für das Gruppenblog ›Lesen was klüger macht‹ die Entwicklungen zum Thema ›Abbau des Geheimnisse-Stau‹: Wikileaks maßt sich an, Öffentlichkeit anders zu definieren. — Ich selbst habe im Lauf der letzten Woche dem hoffentlich noch abwendbaren, behämmerten Alterskennzeichnungs-Ideen als 2945-ster mein »Nein« erteilt: JMStV ablehnen!. Mein Kommentar dort: Weltfremdes und kontraproduktives Vorhaben, der neue JMStV. Höchstens dazu gut, dass man wieder mal deutlich vorgeführt bekommt, wie sehr Politiker (bzw. jene, in deren eigentlicher Absicht sie handeln) sich vor ›dem Internet‹ fürchten. Ergänz hier: Aber natürlich eine wonnevolle Aussicht für alle, die mit juristischen Kung-Fu als moderne Wegelagerer anderen das Geld abpressen, sowie für die Entwickler & Vermarkter von Kontroll-Technologie.
  • Geheimniskrämerische Wohltäter: Die ›Frankfurter Rundschau‹ berichtete am 27. Nov. kritisch über Stephanie zu Guttenbergs Verein: Im Spendensumpf und ›Twister‹ konnte am 01. Dez. dann in ihrem Artikel bei ›Telepolis‹ ›Innocence in Danger‹ und deren ungewohntes Schweigen ergänzen, dass IoD lieber Journalisten verklagt, als Transparenz vorzuleben. (Nebenbei: die Gutenberg habe ich bereits auf einen Notizzettel gezeichnet. Die kommt also bald in meiner Fetzenschädel-Reihe.)
  • Zur Abwechslung Kultur: ›TAZ‹ brachte einen nettes Texterl von Nina Ernst über Geschichte in Computerspielen: Aus Fakten wird Fiktion - manchmal. — Ich finde, dass viel zu selten über den ›anderen‹ großen ›Iconic Turn‹ gesprochen wird, der seit dem Aufstieg der Massenmedien abgeht. Über den Wandel von der Schrift-zur Bild-Kultur salbadert schnell mal jemand, aber die Verdrängung der Erzähl- durch die Spiel-Kultur wird vergleichsweise selten thematisiert.
  • In ›Neues Deutschland‹ wurde ein begrüßenswerter Artikel von Martin Koch über die frühe Royal Society veröffentlicht: Zwischen Erkenntnis und Intrige.

(Deutschsprachige) Phantastik-Funde

Zur Erinnerung: Hinweise auf bemerkenswerte deutschsprachige Internet-Beiträge zum Thema Phantastik (in allen ihren U- & E-Spielarten) bitte per eMail an …

molosovsky {ät} yahoo {punkt} de

… schicken. — Willkommen sind vor allem Hinweise zu Texten, die wenig beachtete Phantastikwerke behandeln (z.B. also Einzelwerke statt Seriensachen), oder die über Autoren, Theorie und Traditionsentwicklungen berichten.

Zuckerl

  • Gigantisches Mutanten-Prügelei-Wüstenödnis-Endzeit-Comic, für umme! »Murderbullets« bei ›Orc Stain‹.
  • Bei ›Newgrounds‹ über The Game gestolpert. Taugt als Spiel eigentlich nix, sondern nutzt Spiel-Konventionen als Mittel zum philosophischen Kalauern. Also quasi Kunst oder Kabarett, oder so.
  • Auf dem YouTube-Kanal von apachepics gibt es eine zum Niederknien feine Hommage auf Chuck Jones, »Wiley Vs. Rhodes«, gedreht mit echten Leuten.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

»Eine andere Welt« (6) – Kap. IV: Die Erde in der Vogelperspektive von Grandville & Plinius dem Jüngsten

Eintrag No. 679Zur Inhaltsübersicht.

Die Illustrationen einer alten französischen Ausgabe habe ich dem flick-Album von blaque jaques entnommen.

IV. Die Erde in der Vogelperspektive.

Gott! Wie klein sind die Menschen! Altes Volkslied.

Schwadronarius, Neugott und Aerostograph, beurteilt die Menschen aus der Vogelperspective und empfindet dieses Herzeleid 6000 Fuß hoch über dem Niveau des Straßenpflasters.

Die schönste Verwünschungen des Altertums halten keinen Vergleich aus mit der gedankenreichen Anrede, welche Schwadronarius' Munde entströmte, als er die Erde verließ. Die Schnelligkeit seines Aufsteigens fand nur in der Schnelligkeit seiner Worte einen würdigen Nebenbuhler. Die Gegenstände, welche seine Blicke trafen, dienten allein dazu, die Flut seiner lyrischen Improvisation zu vermehren. Über einer Reitbahn ließ er den Ballon anhalten, aber nicht um den Raum, den er durchschnitten, zu messen, sondern nur um gegen die Menschen im Allgemeinen und die Kunstreiter im Besonderen neue Redensarten zu schleudern.

»Das sind Menschen, die ihr Leben damit verbringen, Wendungen und Verrenkungen auf der Croupe eines Pferdes zu machen; Frauen, die ihren Ruhm darin suchen, durch einen mit Ölpapier beklebten Reif zu springen und in fleischfarbenen Tricots und flatternden kurzen Gewändern ihre Künste hoch zu Ross zu producieren, Alles nach den Worten: ›Hupp! Hupp! Hupp!‹, oder ›Hopp! Hopp! Hopp!‹ mit Begleitung von türkischer Musik.«

Kaum war er damit fertig, so trieb ein Windstoß seinen Ballon nach der linken Seite und Schwadronarius schwebte jetzt über der Terrasse eines Gartens, dessen Bezeichnung sehr viele, mehr oder minder interessante Romane enthalten. Ein Jüngling und eine Jungfrau plauderten miteinander auf dieser Terrasse sehr leise, dicht aneinander sich drängend. Unten schlich ein Mann, Vater, Oheim oder Vormund vorsichtig auf dem Fußsteige längs der Gartenmauer näher. Schwadronarius lächelte über die vergeblichen Anstrengungen, die er ihn machen sah, um sie zu überraschen, als er plötzlich gerade in dem Augenblicke, wo die Jungfrau dem Jüngling den Scheidefuß zu geben im Begriff stand, in der Ersteren sein Bäschen Gertrude erkannte, für die er die zärtlichsten Liebeslieder in Musik gesetzt und ihr gewidmet hatte. Da begriff er zum ersten Mal, dass ein Gott lieben und leiden könne, wie ein gemeiner Schäfer. Nun hätte er gern seinem Rächer beigestanden und gesehen, wie dessen Zorn und Regenschirm den verhassten Nebenbuhler traf, aber er fühlte zu sehr das Bedürfnis, seine neue Würde zu retten, und stieg daher majestätisch wieder empor.

Unserem göttlichen Aeronauten bot sich, als er so hoch über den Straßen, den Häusern und Vorstädten dahinschwebte, noch manches Schauspiel zwar umsonst, aber nicht eben ergetzlich dar. Unwillkürlich richtete er den Blick auf ein Ballet unter offenem Himmel, das einige junge Savoyarden und einige alte Pudel aufführten.

»Unglückliche Kinder! Unglückliche Hunde!«, rief er. »Dazu verwendet der Mensch Eure Jugend, Eure Anmut, Eure Frische! Unschuld, Alter, Hunde, Alles macht er seinem Vergnügen dienstbar. Wahrlich, ich werde mich nicht mehr um ihn kümmern!«

Dieser Entschluss hinderte ihn jedoch nicht, eine vorübergehende Amsel zu fragen, was sie von den Menschen halte.

»Der Mensch«, pfiff die Amsel, »ist ein plattes Wesen. Er verabscheut uns und beneidet uns sein ganzes Leben hindurch um die Fähigkeit, zu fliegen. Endlich stirbt er aus Verdruss darüber, dass die Flügel, die er sich macht, an der Sonne schmelzen. Das ist meine Meinung über den Menschen.«

Schwadronarius tat nun dieselbe Frage an den Kranich.

»Der Mensch«, entgegnete der Kranich, »ist ein sehr plattes Wesen. Er versucht vergebens, uns nachzuahmen. Auf Locomotiven strebt er uns einzuholen und ist eifersüchtig, dass unsere Flügel uns weiter tragen als ihn seine Eisenbahnen.«

Eine Lerche sang ihm auf dieselbe Frage folgende Antwort:

»Der Mensch ist ein außerordentliches plattes Wesen. Die Vortrefflichkeit meines Gesanges bringt ihn zur Verzweiflung. Er versuche es einmal, wie ich einen Triller im Aufsteigen zu schlagen, seine Töne zwischen Himmel und Erde erschallen zu lassen und ein Solo, umgeben von den Strahlen der aufgehenden Sonne, zu singen. Der Mensch ist neidisch und ohne Fähigkeiten. Das ist meine Meinung.«

Eine junge Nachtigall flötete ihm dieselbe Ansicht über den Menschen zu.

»Die Vögel haben Recht«, sagte Schwadronarius, »ich teile ganz ihre erhabene Ansicht und habe die Plattheit des Menschen nie besser begriffen als jetzt.« Nachdem er diesen Gedanken in sein Album geschrieben, beschloss er ihn dem ersten Zugvogel mitzuteilen, der ihm begegnen würde. Eine wilde Ente, die nach Europa flog, um sich dort von einer Leberkrankheit kurieren zu lassen, war so gefällig, das Blatt mitzunehmen.

Schwadronarius schwebte gerade über Paris und gewahrte tief unten auf dem Vendomeplatze die Napoleonssäule.

»Ich sehe«, fuhr er fort, »dieses großartige Denkmal menschlichen Ruhmes. Kutscher und Wasserträger, Herzoginnen und Hökerinnen {= herumziehende Händlerin}, vornehme Herren und gemeines Volk, kurz alle Welt umkreist das Monument; zwischen der hundert Fuss hohen Säule und den Menschen sehe ich keinen Unterschied; sie scheinen mir sämmtlich gleich hoch zu sein. — Von dem Gesichtspunkte aus, auf dem ich mich befinde, ist der Ruhm gleich dem Nichts.«

Befriedigt von dieser Definition schwang sich Schwadronarius wieder zur Sonne empor.

Als seine Blicke zum letzten Mal auf der Erde ruhten, sah er das Pflaster des Boulevard von Fiakern {= zweispännige Pferdekutsche}, Kutschen und Wagen voll Masken überschwemmt. Ein verwirrtes misstöniges Geschrei drang bis zu ihm. Er wollte sich von diesem für das Auge eines Philosophen so traurigen Scenen entfernen, aber eine Windstille hielt seinen Ballon fest. Diese Zeit benutzte er, um sein Tagebuch zu schreiben, hielt es jedoch für passend, seinem Obergott die Geschichte mit Gertrude zu verschweigen. Wir verdanken diese Episode der Schwatzhaftigkeit eines Hänftlings; sie beweist, dass Alles, selbst von oben gesehen, seine Nachtseite haben kann.

••••• Flattrn Sie diesen Eintrag, wenn Sie der Meinung sind, dass er etwas wert ist. 

Sie sind nicht angemeldet