Noch nicht eingepflegt sind meine eigenen Prosa- & Lyrik-Werke, die in kleinster Handpresse-Auflage bzw. im Phantastik-Fandom (»Fantasia« und »Follow«) erschienen sind.
»Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« für den Golkonda Verlag, 2011. Übersetzung der Kurzgeschichten:
• »Der Turmbau zu Babel«,
• »Geschichte deines Lebens«,
• »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes«,
• »Der Kaufmann und das Portal des Alchemisten« und
• »Ausatmung« von Ted Chiang.
Geschichten, die ein ganzes Universum enthalten: Die Wahrheit über den Turmbau zu Babel; der folgenreiche Erstkontakt mit einer außerirdischen Spezies; die Verzweiflung angesichts des Verlusts eines unersetzlichen Menschen; ein Zeitreiseabenteuer der anderen Art; und ein bestürzender Ausflug an die Grenzen des wissenschaftlich Machbaren …
Kein anderer Science-Fiction-Autor hat in den letzten zwanzig Jahren auch nur ansatzweise so viel Begeisterung ausgelöst wie Ted Chiang. Kein anderer Science-Fiction-Autor wurde für ein so schmales Werk mit mehr Preisen ausgezeichnet. Nun liegt endlich auch auf Deutsch ein Auswahlband mit seinen Erzählungen vor.
••• Empfehlung des Literaturkritikers Denis Scheck in der »Druckfrisch«-Sendung (ARD) vom 24. Dez. 2013:
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»Medusas Rache — Hellboy Stories 1« für den Golkonda Verlag, 2012. Übersetzung der Kurzgeschichten:
• »Medusas Rache« von Yvonne Navarro,
• »Puzzle« von Stephen R. Bissette,
• »Eine Mutter weint um Mitternacht« von Philip Nutman,
• »Versicherungen« von Greg Rucka,
• »Folie à Deux« von Nancy Holder,
• »Dämonenpolitik« von Craig Shaw Gardner und
• »Ein grimmiges Märchen« von Nancy A. Collins.
1994 erblickte Hellboy zum ersten Mal das Licht einer Comicseite und entwickelte sich in den nächsten Jahren zu einem phänomenalen Erfolg, der 2004 und 2008 mit den Kinofilmen von Starregisseur Guillermo del Toro seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Im Dezember 1999 wiederum erschien der erste von inzwischen drei Sammelbänden mit Hellboy-Geschichten, die bisher nur auf Englisch erhältlich sind. Dem wollen wir nun abhelfen, denn ob im Comic, auf der Leinwand oder in Form des gedruckten Wortes — niemand erlebt so faszinierende, so unheimliche, so abgefahrene Abenteuer wie Hellboy!
Einige der besten Phantastik-Autoren der angloamerikanischen Szene haben zur Feder gegriffen, um dem roten Riesen die Ehre zu erweisen. Jede Erzählung ist mit einer ganzseitigen Illustration von Hellboy-Schöpfer Mike Mignola versehen — ein Augenschmaus für Kenner und ein Muss für jeden Sammler.
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»Eine offene Rechnung — Hellboy Stories 2« für den Golkonda Verlag, 2015. Übersetzung der Kurzgeschichten:
• »Waffenbrüder« von Frank Darabont,
• »Der vor dem Zaubrer flieht« von Peter Crowther,
• »In der Flut« von Scott Allie,
• »Newford-Spuk-Schwadron« von Charles de Lindt,
• »Wassermusik« von David J. Schow,
• »Der Vampir-Prozess« von James L. Cambias,
• »Eine offene Rechnung« von Ed Gorman & Richard Dean Starr, und
• »St. Hellboy« von Tom Piccirilli.
Klappentext:
Frank Darabont, bekennender Hellboy-Fan unter Hollywoods Filmemachern, deutet das Motto des zweiten Bandes von Hellboy-Geschichten bereits im Vorwort an: Man reist nicht, um anzukommen, man reist, um unterwegs zu sein. Fast ausnahmslos große anglo-amerikanische Horror-Autoren, darunter David J. Schow, Tom Piccirilli und Ray Garton, entführen uns in Hellboys Welt. Ihnen ist es zu verdanken, dass Hellboys Sprüche so gut passen wie die »rechte Faust des Schicksals« aufs Auge der Ungeheuer − und zwar immer und überall.
Mit dem roten Riesen als Reisegefährten fühlt sich auch der Leser in Mike Mignolas Comic-Universum aus Folklore, Geistergeschichten und aberwitzigem Fantasy-Horror sehr schnell wohl, egal ob in den Abwasserkanälen von New York City oder in einem klassischen Westernsaloon, der nach Whisky, Staub und Pferdeschweiß riecht. Gegen Ende der Reise winkt dann doch ein schmackhaftes Ziel: »Leckere Zähne« aus der Feder von Guillermo del Toro. Der zweite Regisseur im Bunde trifft genau den richtigen Ton, um uns von einem weiteren Hellboy-Film träumen zu lassen — wobei jede der hier versammelten Geschichten zweifellos einen höllisch guten Roadmovie abgeben würde.
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»Nimmèrÿa 2: Nimmeryána« von Samuel R. Delany (Herausgegeben von Karlheinz Schlögel; Übersetzung von Annette Charpentier) für den Golkonda Verlag, 2015.
Lektorat/Durchsicht der überarbeiteten Neuauflage.
Klappentext:
Dies ist die Geschichte von Pyrn, dem Mädchen, das auf dem Rücken eines Drachens in die Hauptstadt Nimmèrÿas reitet. Aus ihrer Sicht nehmen wir an dem von Gorgik angeführten Sklavenaufstand teil, mit ihr erleben wir die Machtspiele und sexuellen Verstrickungen der Städter. Pyrns Reise führt sie auch in den gefährlichen Süden, zu den Mythen und Rätseln eines dunklen Kontinents.
Die prähistorische Welt Nimmèrÿas dient Delany dazu, über die Ursprünge unserer eigenen Zivilisation zu meditieren: Woher kommen die Dinge, die wir für selbstverständlich halten? Wo nehmen Sprache, Kultur und Macht ihren Anfang, und inwieweit sind wir noch immer von diesen Anfängen geprägt? Gleichzeitig erspart uns Delany die Komplexitäten dieser Welt nicht — sie ist voll von Mythen und Rätseln, von Gewalt und Sexualität, und bietet uns so eine wirklichkeitsnahe und farbenfrohe Fantasywelt.
»Magira Jahrbuch zur Fantasy 2010«: Sammelrezension »Stromern auf ungetrampelten Pfaden« mit Besprechungen zu
• »Eine Andere Welt« von Grandville und Plinius der Jüngere;
• »The City & The City« von China Miéville;
• »Shriek« und »Finch« von Jeff Vandermeer;
• »The Sad Tale of the Brothers Grossbart« von Jesse Bullington.
»Magira Jahrbuch zur Fantasy 2009«: Sammelrezension »Wonniglich verirrt im Laybrinth der Phantastik« mit Besprechungen zu
• »Das Obsidianherz« von Ju Honisch;
• »Un Lon Don« von China Miéville;
• »Wer länger lebt ist später tot — Operation Zombie« von Max Brooks;
• »Die gelöschte Welt« von Nick Harkaway;
• »Gegen den Tag« von Thomas Pynchon;
• »Das Ewige Stundenbuch 1 — Vellum« von Hal Duncan;
• »Das Haus« von Mark Z. Danielwski.
»Magira Jahrbuch zur Fantasy 2007«: Sammelrezension »Gut gelaunte Phantastik-Empfehlungen des Lektürejahres 2006/2007« mit Besprechungen zu
• »Der Barock-Zyklus« von Neal Stephenson;
• »Jonathan Strange & Mr Norrell« und »Die Damen von Grace Adieu« von Susanna Clarke;
• »Die Gelehrten der Scheibenwelt« von Terry Pratchett, Ian Steward und Jack Cohen;
• »Wächter der Nacht«-Bücher von Sergeij Lukianenko;
• »J. R. R. Tolkien — Autor des Jahrhunderts« von Tom Shippey.
»Magira Jahrbuch zur Fantasy 2003«: Einzelne Rezensionen zu
• »Perdido Street Station« von China Miéville;
• »Der Steinkreis des Chamäleons« von Ricardo Pinto;
• »Siegfried und Krimhild« von Jürgen Lodemann;
• »Der Mann der Donnerstag war« von Gilbert K. Chesterton.
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Podcasts
Januar 2018: Zu Gast bei ›Polyneux spricht‹ in der »Kristallkugel-Edition« mit Vorschau auf das kommende Games-Jahr.
Mai 2017: Zu Gast bei ›Polyneux spricht‹ in der Sendung über die »Dark Souls«-Spiele.
Juni 2015: Zu Gast bei ›Polyneux spricht‹ in der Sendung über »Bloodborne«.
März 2015: Zu Gast (zusammen mit Markus Widmer) bei ›Sigma 2 Foxtrot‹ in der Sendung über China Miéville.
Januar 2013: Folge 98 der Komplettlesung von Egon Friedells »Kulturgeschichte der Neuzeit« für ›Radio Orange 94.0‹; Lesung des Abschnittes über Arthur Schopenhauer und Selbstgespräch. Gestaltet von Herbert Gnauer. — Zur Sendung.
Das gute Stöffche der Susanna Clarke’schen Phantastik wurde mir zum ersten Mal in der von Neil Gaiman herausgebenen Anthologie mit Kurzgeschichten aus dem Universum seiner »Sandman«-Comics kredenzt, und später lag einer Gallery-Mappe zu Gaimans und Charles Vess »Stardust« eine weitere Kurzgeschichte von Clarke bei[01]. In der Autorenbio der »Sandman«-Antho von 1996 heißt es (Übersetztung von Molo):
Derzeit arbeitet sie an einem Roman, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Zauberei eine mehr oder minder angesehene Profession ist.
Gute zehn Jahre hat Clarke an »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (= JS&MN) gefeilt, bis der Roman 2004 erschien.
Welch eine Freude! Was für eine Wohltat, wie JS&MN mittlerweile aufgenommen wurde, sowohl bei den Genre-Lesern, als auch von der Zunft der berufsmäßigen Literaturmeinungsverbreiter in Großmedien und Feuilletons. So jubelt beispielswiese Denis Scheck für die TV-Sendung »Druckfrisch«:
Susanna Clarke hat eines jener raren Bücher geschrieben, die uns daran erinnern, dass die Realität nur der Ort des Eskapismus derjenigen ist, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind
und Nina May für »Die Zeit«:
Mit einer wunderschönen Bildersprache hat Susanna Clarke ein Buch für lange Herbstschmökerabende geschrieben, ein Buch, auf dessen honigfarbene Seiten einfach Schokoladen- und Kaffeeflecke gehören.
Aber, in beiden Lagern (bei Fantasylesern und Literatuuurverköstern) äußerte man verschiedentlich auch Befremden oder Unwohlsein über einige Eigenschaften von Clarkes Roman. Befremdet zeigte sich auch eine angesehene englische Literatin[02], die Clarke im Vorfeld der Veröffentlichung von JS&MN zwar begeistert bescheinigte, einen außergewöhnlich guten Roman vorgelegt zu haben, aber Clarke solle das Buch doch besser nicht selbst freimütig als ›Fantasy‹ bezeichnen, dass würde ja die anspruchsvolle oder ernste Leserschaft auf falsche Fährten locken und verschrecken. Diese Denkfigur ist ja bekannt: wenn ein Buch gute Literatur ist, dann kann es keine Genre-Fantasy sein. (Und ergänzend das andere in meinen Augen genauso dumme Vorurteil: Fantasyleser können eigentlich niemals wirklich ›ernsthafte‹ oder ›anspruchsvolle‹ Leser sein.)
Natürlich sind Einwände gegen die prägnanten Eigenschaften solch guter Literatur wie JS&MN nicht immer gänzlich kraftlos. Wer auf einen zügigen Fortlauf und klaren Bezug von Ereignissen wert legt, wer positive, leicht zu handhabende Rollenverteilung bevorzugt, wer mehr eine Schwäche (oder grad eben eher Gelegenheit) für ›Auf Sie mit Getöse‹-Äktschn und verlässliche Achterbahn-Thrill- und/oder Gefühlskissen-Einlagen hegt, wird hart und wohl weitestgehend freudlos an JS&MN zu knabbern haben, und nach einigen hundert Seiten beiseit legen. Wem es so ergeht, ist nicht automatisch ein schlechter oder dummer Leser. Man outet sich halt nur, ein ungeduldigerer Leser[03] in Sachen ›Worum geht’s denn nu?‹-Haltung zu sein.
Da ist es bequem, dass sich mittlerweile die nicht oft bietende Gelegenheit auftut, und man sich wie bei einem guten alten Rollenspiel-Buch[04] auf, in diesem Fall, zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in eine Fantasywelt begeben kann:
»Möchtest Du lieber in einem munter ausufernden dicken Roman versinken, dann greife zu ›JS&MN‹;
Wenn Du elegant geschnürte Kurzgeschichten vorziehst, dann gib Dich den ›Die Damen von Grace Adieu‹ hin.«
Da JS&MN bereits mit einiger Aufmerksamkeit bedacht wurde, stelle ich im Folgenden »Die Damen von Grace Adieu« (= DVGA) ausführlicher vor[05].
DIE KURZGESCHICHTEN
Leider wurde für die deutsche Ausgabe nur das ornamentale Blumenmotiv des Umschlags übernommen, die restlichen, entzückend anmutigen Illustrationen von Charles Vess[06] der hiesigen Leserschaft aber traurigerweise vorenthalten. Da blühen Prunkwinden, Sterne und Vollmond kehren mehrmals wieder, Eulen im Flug; zwei der drei Damen von Grace Adieu halten sich beschwörend an den Händen, die dritte betet, alle tragen typische Regency-›Elfenkleidchen‹ mit Kaschmirschultertuch, Puffärmeln und gesogten Bündchen; aus einem Buch klettern kleine Kobolde und ranken sich belaubte Ästchen; ein kleiner Junge steht auf der Mauer einer Turmruine umflattert von einem Rabenschwarm; nächtliche Hügel mit Hirsch, Hundemeute und rufenden Gestalten im Nebel; eine junge Frau mit Haube und Korb guckt in einem dichten Wald durch einen schmalen Ausblick auf einen Weg der zu Steinkreisen und einem ummauerten Turm führt; an einem Kirchturm fliegt ein kleines Schiffchen mit drei fröhlich musizierenden Engelsmännekens vorbei; Mary of Scottland sitzt vor einem Gobelin und stickt mit finsterem Blick; drei Heilige schauen ehrfurchtsgebietend auf den Betrachter herab.
Zuerst spricht ein gewisser Prof. James Sutherland (im Jahre 2006 Direktor für Sidhe-Studien[07] an der Uni Aberdeen) zu uns, als Autor des Vorwortes und Herausgeber der Kollektion, später noch mal als Erzähler/Bearbeiter einer der Geschichten. Die magisch-historische Alternativwelt von Clarke umfasst sich nicht nur die mittelalterliche und frühneuzeitliche Vergangenheit bis zum Regency. Laut Sutherland soll DVGA zum einen helfen, die Entwicklung der Zauberei auf den Britischen Inseln zu verstehen, zum zweiten dem Leser einige Einblicke und Rat liefern betreffs des Umgangs mit Elfen sowie deren schwer durchschaubaren Manipulationen menschlicher Angelegenheiten.
In dem Roman JS&MN ist Zauberei ja zuvörderst eine Männer-, genauer gesagt eine Gentleman-Angelegenheit, und der Erzählungsreigen ergänzt vorzüglich, da uns (nicht nur) durch die titelgebende Eröffnungsgeschichte »Die Damen von Grace Adieu« (1996) etwas von den weiblichen Zauberkünsten gezeigt wird. Hier lernt man die vielleicht drei fähigsten Zauberinnen des Regency-Englands zur Zeit von JS&MN kennen, die in dem kleinen (fiktiven) Kaff Grace Adieu leben, und sich bei ihren abendlichen Unterhaltungen über ihre männlichen ›Kollegen‹ Norrell und Strange uffregen, ansonsten sie als Kindermädchen auf Weisen aufpassen (Miss Tobias), als Witwe ein angenehmes Dasein pflegen (Mrs Field) oder mit Unbehagen über Heiratsfragen grübeln (Cassandra Parbringer). Der illustre, jüngere Meisterzauberer im Dienste Englands, Jonathan Strange, besucht zusammen mit seiner etwas überdrehten Frau Arabella deren Bruder Henry, von dem es heißt, er wolle die junge Cassandra ehelichen (die dazu lieber nix sagt). Wie überall, wo Jonathan weilt, ist er die Attraktion des Ortes, und er begegnet nächtens den drei zauberhaften Damen zwischen Wald und Hügel. Zugleich werden die Damen von unangenehmen Zeitgenossen heimgesucht, und ›Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen!‹
In »On Lickerish Hill« (1997) lesen wir die dialektgefärbten Aufzeichnungen von Miranda, einer schlauen jungen Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit dem wenig umgänglichen Sir John Sowreston verheiratet ist. Zum einen schildert die Geschichte eine Variante des Rumpelstilzchen-Märchens, und wie Miranda sowohl ihren Gatten als auch den spinnenden Elfen austrickst. Andererseits ist Miranda auch Gastgeberin eines wuseligen Gelehrtengrüppchens (die Royal Society ist noch in ihren Kindertagen), zu denen auch John Aubrey gehört[08]. Die Herren Gelehrten tummeln sich als Elfenkundler im moorigen Umland, entwerfen Fragenkataloge, für den Fall, dass sie mal einen Elfen erwischen, streiten natürlich immerfort leidenschaftlich und versuchen sich im Beschwören von Elfen.
Venetia, die Heldin der Geschichte »Mrs. Mabb« (1998) ringt mit dem Wahnsinn, denn ihr Geliebter weilt mit seinem Regiment in der Ferne im Kampf gegen Napoleon, oder doch nicht? Fiel er nicht vielmehr der Becircung der geheimnisvollen Mrs. Mabb anheim? Insekten spielen eine wichtige Rolle[09] und Venetia verbreitet bei ihren Versuchen die Schliche von Mrs. Mabb zu ergründen Unruhe unter deren Gästen und Familienangehörigen. Ins Irrenhaus eingeliefert zu werden dräut der Verzweifelten als Schicksal.
»Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig« (1999) ist der kürzeste Beitrag der Sammlung und lässt den große Helden (eine Art Rockstar seiner Epoche) Lord Wellington triumphieren, indem er es versteht, mit Nadel, Faden und Schere um sein Leben zu kämpfen.
»Mr. Simonelli und Der Elfen-Witwer« (2000) kommt in Form von Tagebuchauszügen der Titelfigur daher. Mr. Simonelli, ein junger Protestant italienischer Abstammung, nimmt, um den unaufhörlichen Intrigen Cambridges zu entkommen, eine Stelle als Landpfarrer an. Dort lernt er John Hollyshoes kennen, einen ihm bisher unbekannten Verwandten, der in dem heruntergekommenen Anwesen Allhope lebt. Hier treibt Clarke das Scharadenspiel zwischen Elfenprunk und tatsächlichem Verfall am weitesten, und Simonelli findet sich zu seiner Überraschung in der Rolle es beherzten Frauenretters wieder.
»Tom Brightwind oder Wie die Brücke in Thoresby gebaut wurde« (2001) ist die munterste Geschichte, mit den tollsten Zaubereikunststückchen. Herausgeber James Sutherland erzählt auktorial (mit Fußnoten) von einem im Jahre 1780 spielenden Abenteuer der Freunde David Montefiore, einem betont vernünftigen jüdischen Arzt, und Tom Brightwind, einem wohlhabenden Elfen, geschlagen mit einer quirligen Rasselbande junger Prinzessinstöchter.
»Antickes & Frets« (2004) handelt von der Konkurrenz zwischen Elizabeth I. und Mary von Schottland. Mary sinnt auf Rache und Thronübernahme und gibt sich zu diesem Zwecke alle Mühe, von der Heiratskarrieristin Bess Hardwick zu lernen, wie man mittels Stickereien Leute killt.
Zuletzt widmet sich Clarke/Sutherland mit »John Uskglass und der Cumbrische Kohlenbrenner« (2006) dem legendären Rabenkönig, dem mittelalterlichen Champion der englischen Zauberei, der schon in JS&MN eine wichtige und verrufene Rolle inne hat. Der junge Rabenkönig Uskglass verbreitet leichtfertig Chaos auf einer Waldlichtung, dem Zuhause eines einfachen Kohlenbrenners und seines Schweins. Der Kohlenbrenner will Vergeltung und klappert dazu die nächstgelegenenen Kirchen ab, wo die Heiligen (St. Kentigern, St. Barbara & St. Oswald) aus ihren Glasmalereihimmeln herabsteigen, um mit perfiden Zauberein dem aus Leichtsinn rücksichtslosen Uskglass erzieherische Lektionen zu erteilen.
Letztes Jahr habe ich gemosert wegen zu schnell und unbedacht gezogener ›Typisch Englisch, halt so wie bei Charles Dickens‹-Vergleiche. Bei Clarke kann aber auch ich solchen Vergleichen mit den üblichen Verdächtigen zustimmen: Clarkes alternativgeschichlich-magischer Weltenwurf verdankt nicht wenig den Romanen von Dickens und Jane Austen, denn Charakterzeichnung und die Schilderungen komplexer Standes- und Gesellschaftsregeln ist mehr Raum gewidmet, als knalliger Äktschn, und sind auf anregend durchdachte Art mit den magischen Vorgängen verbandelt. Clarke zeigt sich in ihrer Kurzgeschichtensammlung als meisterhafte Stimmenimmitatorin, die scheinbar mühelos die manchmal formelhaften Schematas von Märchen zu überraschend zu varieren und neuzubeleben versteht, mit dem für Kleinigkeiten aufmerksamen Alltags-, Konversations- und Sehnsuchtshin- und her, durch das eben die Romane von z.B. Thackery, Austen oder der Brontegeschwister zur Weltliteratur aufstiegen. Zwischen diesen beiden Erzählkonventionen pendelnd (Märchenfantasy hie, realistische Gesellschaftsprosa da), gelingt es Clarke spielerisch, ihre Leser und Protagonisten amüsant an der Nase herumzuführen und zu überraschen.
DER ROMAN
Spätestens seit Shakespeare ist ja bekannt, dass die Welt eine Bühne, und wie wichtig es deshalb ist, sich gemäß des eigenen Platzes in der Gesellschaft zu verhalten. Doch wer verteilt die Rollen und wie ergeht es Personen, die sich partout danach sehnen, von ihrem zugedachten ›Text‹ abzuweichen? Eine ganz ähnliche Frage, nur von ungleich größerem Format, eröffnet Clarkes dicken Roman JS&MN[10]. »Warum gibt es keine Zauberei mehr in England?«, will eine Versammlung von Gentleman-Zauberern zu Beginn ergründen, und einige unter ihnen sind nicht Willens, dieses Schicksal länger hinzunehmen. Diese Herren studieren zwar (allerweil streitend) die Geschichte der Zauberei, sind aber selbst zu keinerlei magischen Taten im Stande. Wegen des Rufes seiner exzellenten Bibliothek, treten die Gentlemen-Zauberer brieflich in Kontakt mit dem schrulligen und dauerschlechtgelaunten Bücherwurm Mr. Gilbert Norrell auf, der laut eigener Auskunft der einzige wahrhafte lebende Zauberer Englands ist. Nach einigem Zögern entschließt sich Norrell die Provinz zu verlassen und siedelt nach London über, um sich in den dortigen Salons darum zu bemühen, der englischen Zauberei zu neuem Glanz zu verhelfen., und mit ihr England im Krieg gegen Napoleon beizustehen. Mit seinen ersten magischen Kabinettstückchen überwindet Norrell das anfängliche Misstrauen der Entscheidungsträger aus Politik und Militär. Doch, ›Oh je!‹, der scheue Misanthrop findet sich dann, sehr zu seinem Missfallen, bedrängt von der aufgeregten Neugierde und den mannigfachen Begehrlichkeiten der besseren Gesellschaft, und begeht einen großen Fehler, als er eine junge Dame vor dem Tod errettet. Norrell sichert sich eifersüchtig und despotisch die Stellung des exklusiven Staatszauberers, ringt sich aber schließlich durch, seine Kenntnisse und Fertigkeiten mit einem Schüler zu teilen. Als solcher kommt verhältnismäßig spät, am Ende des erstens Drittels, Jonathan Strange in die Geschichte.
Der Kontrast der beiden Titelfiguren erinnert mich im besten Sinne an das Couplet, das Walter Matthau und Jack Lemmon in ihrer Laufbahn mehr als einmal grandios geboten haben: der Ältere ein emotionell harter und zerknautschter Griesgram, der Jüngere ein verplapperter und naiv-hochmütiger Hupfdibupfdi. Während Norrell in England bleibt um stets gereizt, verkrampft und paranoid das seine zum Krieg und der Magie-Renaissance beizutragen, begibt sich Strange ins Ausland zu den Truppen auf der iberischen Halbinsel[11]. Im diesem zweiten Drittel des Romans kommen nun auch Äktschn-Fans vermehrt auf ihre Kosten. — Überhaupt: Clarke steigert (für meinen Geschmack wunderbar) altmodisch sachte und subtil die Spannungs- und Spektakel-Dosis. Nicht selten schlendert der Romanfortgang scheinbar planlos herum, lässt sich athmosphärisch hie und da ein klein wenig treiben, schildert aber sonst mit der gewitzten Präzision die scharfer Beobachtung eigen ist, und die hier zudem gut Hand in Hand mit der (typisch) britischen Sitte einhergeht, Gemeinheiten und Tiefschläge zwischen feinen Ranken von spitzen Unterschneidungen zu platzieren. Zudem, und hier bedient Susanna Clarke ganz besonders meine speziefischen Phantastik-Gelüste, lässt sie gern auch mal kecke Büschel kleiner Groteskerien sprießen, oder balanciert souverän ganze Szenen auf einem schmalen Grad zwischen augenöffnender Plausibilität und prickelnder Abstrusität.
Als einer, dem mittlerweile einfach gestrickte Macho-, Strahle- oder Antihelden abhold sind, fand ich mein exquisitestes Vergnügen bei Clarkes feinem Amüsement über den Hang von Männchen zur geheimniskrämerischen Wichtigtuerei bzw. flamboyanter Prahlerei[12]. Keine Zweifel habe ich, dass sich Susanna Clarke mit ihren beiden Büchern jetzt schon in die Riege der ganz großen Vertreter der Phantastik geschrieben hat. Sie versteht vorzüglich, ihre Figuren als leicht übertriebene Karikaturen zu gestalten, und sie dennoch mit Würde und Einfühlungsvermögen zu behandeln — ein leider nur ziemlich selten zu findendes Lektürevernügen. All diese Qualitäten von Clarkes Schreibe, lassen mich der in Arbeit befindlichen (für sich stehenden) Fortsetzung von JS&MN entgegenfiebern. Immerhin: nach der feinen Salongesellschaft und ihrer Handlanger, will sie sich diesmal vermehrt mit den unteren Schichten der Gesellschaft auseinandersetzten. Ich hoffe nur, dass sie nicht nochmals 10 Jahre braucht.
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»Die Damen von Grace Adieu« (engl. »The Ladies of Grace Adieu«, mit Illus von Charles Vess, Bloomsbury 2006), übersetzt von Anette Grube, 300 Seiten; Gebunden Bloomsbury Berlin (2006) ISBN-13: 9783827006882; Taschenbuch bei Berlinverlag (2008) ISBN-13: 9783827006882.
»Jonathan Strange & Mr. Norrell« (engl. mit Illustrationen von Portia Rosenberg, Bloomsbury 2004), übersetzt von Anette Grube & Rebekka Göpfert, 1021 Seiten; Gebunden Bloomsbury Berlin (2004) ISBN-13: 9783827005229; Taschenbuch bei Berlinverlag (2005) ISBN-13: 9783833303333
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ANMERKUNGEN
[01]»Stoppe’d Clock Yard« in »Book of Dreams«, Hrsg. von Neil Gaiman & Ed Kramer, Harper-Prism 1996 (HC), 1997 (SC).
»A Fall of Stardust« von Neil Gaiman & Charles Vess, enthält »Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«. Diese Geschichte wird als Umsonst-Bonbon auf der wunderschönen Promowebsite zu Clarke angeboten:
www.jonathanstrange.com
Leider — ach Menno! — ist derzeit die deutsche Version dieser Promoseite derzeit kaputt.
Bleibt zu hoffen, daß die »Sandman«-Antho nu’ irgendwann mal übersetzt wird (immerhin sind da u.a. Beiträge solcher Fantasy-Kapazunder wie Gene Wolfe, Steven Brust, und Clarkes Lebensgefährten Colin Greenland versammelt), jetzt da der Panini-Verlag seit dem ersten Quartal 2007 damit begonnen hat, eine »richtige« deutsche Ausgabe von »Sandman« zu publizieren. Panini bringt mich zudem zum Jubeln, denn dort erschien nun auch endlich die mit 400 Zeichnungen von Charles Vess illustrierte Prachtversion von »Stardust« (dt. »Sternenwanderer«).
Ach ja: da ich Tad Williams’ Romane in der Vergangenheit ›mit Wonne‹ gedisst habe, hier ein vielleicht versöhnender Tipp: in der Debüt-Nummer des neuen Phantastikmagazins »Pandora« aus dem Hause Shayol/Otherland-Buchhandlung findet sich eine schöne Übersetzung des Williams-Beitrags der »Sandman«-Antho: »Das Schriftstellerkind«. Auf kurzer Strecke bereitet auch mir Williams Vergnügen. ••• Zurück
[02] Eine launische Spekuation: Ich habe die vorzügliche und streitbare Dame A.S. Byatt im Verdacht. ••• Zurück
[03] Der hier auch besprochene Neal Stephenson hat das in seinem Roman »Diamond Age« schön umschrieben:
Hackworth hatte sich die Mühe gemacht, einige chinesische Schriftzeichen zu lernen und sich mit den Grundprinzipien der fremden Denkweise vertraut zu machen, aber im großen und ganzen hatte er seine Transzendenz lieber unverhohlen und bloßliegend, so daß er sie im Auge behalten konnte — beispielsweise in einem hübschen Schaukasten aus Glas —, und nicht in den Stoff des Lebens eingewoben wie Goldfäden in Brokat.
Heyne 2001, S. 87, übers. von Joachim Körber. ••• Zurück
[05] In heller Begeisterung entbrannt habe ich eine (wie ich finde) Gemme in Sachen Genre-Beschäftigung der anglo-amerikanischen Blogosphäre ins Deutsche übersetzt: das Seminar des akademischen Gruppenblogs »Crooked Timber« über und mit Susanna Clarke zu JS&MN, nachzulesen oder als PDF ausdruckbar unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1511971/
und nachgereicht dazu eine kleine deutschsprachige Rundschau (zu Feuilleton-, Forums- und Blog-Rezis) unter:
http://molochronik.antville.org/stories/1513801/
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[06] Einen willkommenen Werkstattbericht mit einigen Vergleichen zwischen Bleistiftentwurf und Tuschefederreinzeichnung kann man in Vess’ Blog genießen:
http://greenmanpress.com/news/archives/59#
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[07]Sidhe: Keltisches Wort für Elfen, das sich von ›Hügel‹ ableitet. ••• Zurück
[08]John Aubrey (*1625, †1697): Autor des kuriosen Buches »Brief Lives« (»Lebensentwürfe«, Buch 114 der Reihe »Die Andere Bibliothek«, Eichborn 1994), von dem sich auch schon Gaiman den Titel für einen seiner »Sandman«-Sammelbände (Band 7 wird deutsch als »Kurze Leben« erscheinen) entliehen hat. ••• Zurück
[09] Geglückte Insekten/Elfen-Darstellung sah ich zuletzt im grandiosen del Toro-Film »Pans Labyrinth«. Ebenfalls in »Magira 2007« enthalten ist eine ausführliche Würdigung dieses exzellenten Fantasy-Märchen-Films von Uwe Kraus unter dem Titel »Goyas Erben«. ••• Zurück
[10] Mit 1021 Seiten, 69 Kapitel (abgepackt in drei Teile mit 22, 22, und 25 Kap.) und 184 Fußnoten wird dem Leser eine Menge Holz vor’n Latz geknallt. Laßt Euch nicht von den z.T. ausführlichen Fußnoten verwirren und ablenken, in denen Clarke meistens Erzählungspralinen aus der englischen Zauberei-Vergangenheit zum Besten gibt. Ich empfehle, immer zuerst dem Faden eines Kapitels unterbrechungslos zu folgen, und die Fußnoten nach dem Lesen eines Kapitals zu goutieren. Andere Möglichkeit: Man verdirbt sich keine Überraschung, wenn man nach Lust und Laune vorblätternd die kleinen Fußnotenerzählungen als Zwischendurchkonfekt genießt. ••• Zurück
Jetzt im Oktober erscheint zum siebten Mal »Magira – Jahrbuch zur Fantasy«, herausgegeben von Hermann Ritter & Michael Scheuch. Weil die Manuskripte von mir Ehren-Legastheniker sicherlich Zumutungen für jede Redaktion und Korrekturlesertruppe sind, ist es angebracht, daß ich den ehrenamtlichen Korrekturleser(n)Innen ganz demütig Danke! (Ich verbeuge mich herzlich grüßend vor Margit M. und Thomas G.!) Und Krischan S. hat sich wie immer heldenhaft mit den Scans meiner Portrait-Skibbels herumgeschlagen. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen Habereren der verschiedenen Phantastik-Foren, in denen ich mich herumtreibe. So manche Wendung, Idee oder Einsicht, die Eingang in meine Sammelrezi fand, verdanke ich dem tastengeklapperten Tratsch mit Euch!
Wie schon in den vergangenen Jahren, gibts hier als Trailershow eine Übersicht meiner diesjährigen Empehlungen, die mit einiger Höflichkeitsverzögerung ab Anfang 2008 auch Stück für Stück in die Molochronik eingespflegt werden.
Aussicht auf 2008? Gerne will ich mal was anderes ausprobieren. Vielleicht eine Mischung aus Story, Rezi und Essay; vielleicht etwas, mit vielen kleinen Illus (so wie die TB-Ausgabe der Balzac'schen »Tolldreisten Geschichten« mit den Illus von Gustave Doré) … mal schaun.
Im Folgenden nun das »Introdubilo« und die Überleitungsabschnitte meines ca. 13.000 Worte langen »Magira 2007«-Beitrages.
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GUT GELAUNTE PHANTASTIK-EMPFEHLUNGEN
DES LEKTÜREJAHRES 2006/2007
Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, dass wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen. {…} So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft. {…} Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht.
—Jean Paul (1763-1825), »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft«[01]
Dicke, teilweise erschreckend anspruchsvolle Bücher, bzw. flotte Mehrteiler, haben mich im vergangenen Jahr in ihren Bann gezogen. Meine Eingeschüchtertheit vor einigen dieser Werke kann ich gar nicht übertreiben, und wieder mal[02] wurde ich heftig angestubst, mich mit Fragen über das Wesen der Phantastik im allgemeinen und insbesondere der Genre-Schublade Fantasy zu beschäftigen.
Streck- und Lockerungs-Übung: Wie lässt sich möglichst einfach erklären, was Phantastik eigentlich ist? Das Wort kommt ja aus dem Griechischen und bedeutet in etwa »erscheinen lassen«, »sehen lassen«. Gemeint ist, dass ein »Absender« durch Mitteilungen (»Medien«) beim »Empfänger« eine möglichst anschauliche Vorstellung hervorruft. Primitivstes Beispiel das mir dazu einfällt: ein der Sprache noch nicht mächtiges Kleinkind schreit und deutet auf sein geliebtes Stoffhäschen, und z.B. die große Schwester entschlüsselt diese Äußerung und bringt dem Kind das ersehnte Häschen. Oder nehmen wir Trunkenheit. Hält man sich an exakte Vermessungsmethoden, dann kann man den Grad seiner Trunkenheit »ganz nüchtern« in Zahlen ausdrücken, indem man das Mischverhältnis Blut/Alkohol ganz streng benennt: »Gestern hab ich heftig schwer gebechert und als mich der Herr Wachmeister in Röhrchen blasen ließ, zeigte das Gerät, dass ich mit 2,4 Promille unterwegs gewesen bin«(= wissenschaftlich-amtlicher Phantastik-Modus). Wer keine Ahnung hat von diesem Promillezeugs hat, kann ausweichen und sich helfen, indem die einverleibten Getränke aufgezählt werden: »Ach ja, gestern waren's fünf Weizen, drei Korn und zum Schluss noch ein Tequila«(= pragmatischer Modus). Schließlich kann man auch völlig blumig-skladische Umschreibungen verwenden, um den alkoholisierten Bewußtseinszustand kneipenpoetisch zu umschreiben: »Gestern abend haben wir so heftig gesoffen, dass wir einigen Bergen die Gipfel abgebrochen haben«(= umgangssprachlicher Modus[03]). Diese letzte Variante ist zwar total ungenau im Vergleich zu den ersten beiden, aber dennoch: man kann sich ein lebhaftes Bild davon machen, wie trunken durch die Gegend getorkelt wurde.
Das Pro und Contra zur Phantastik lässt sich im Grunde auf Deutungshoheitrangelein darüber zurückführen, welche Sprachgepflogenheiten, Bilderwelten, Vorstellungskonventionen und Denkkonstukte als zulässig bzw. unzulässig gelten sollen. Bei kontroversen Gesprächsrunden muss man meist nicht lange warten, bis jemand empört den Satz äußert: »Das kann man so nicht sagen!«. Unsere Sinneswerkzeuge können halt nur einen leidlich kleinen Ausschnitt des unendlich chaotischen Teiges der Echtweltwirklichkeit erfassen, und unsere Bewusstseins- und Denkorgane backen aus den handlichen Teigbröcken dann mundgerechte Impressions- und Erinnerungsbrötchen. Und weil wir Menschen nun mal derart beschränkt und (vor allem) zu fibbrig sind, als dass wir in das Wittgenstein'sche »Schweigen, worüber man nicht sprechen kann« verfallen wollen, hat die Menschheit aus unzähligen konkurrierenden Phantasma-Steinen und Metaphern-Verstrebungen einen Kommunikations-Turm zu Babel errichtet.
Die folgenden Titel meines zurückliegenden Lektürejahres haben alle mehr oder minder heftig mit nichts weniger als diesem vielgestaltigen Turm zu tun. Auf meinen ersten drei Stationen bereiste ich England, womöglich das Mutterland der modernen Phantastik, und mit vergnügten Eifer studierte ich Tom Shippeys Ausführungen über Tolkien; bewunderte die ungewöhnlich elegante Magie des Romandebuts und der versammelten Kurzgeschichten von Susanna Clarke; bestaunte hingerissen, wie die Gelehrten der Scheibenwelt unsere Rundwelt-Wissenschaft und -Kultur in einer ungewöhnlichen Novellen/Sachtext-Reihe bespiegeln, und im zeitgenössischen Russland entspannte ich mich von dermaßem viel Bildungsanstrengungen, indem ich meine Gaudi damit hatte, wie Sergei Lukianenko Fantasy, Horror und Poproman zu einem zwielichtigen Prosacomic vermengte.
Ich beginne mit einem J. R. R.-Schlenker (da ich auch mit Tolkien abschließen werde). Sein »Der Herr der Ringe« ist ja eines dieser Bücher, das dem Vernehmen nach von seinen begeistertsten Lesern immer und immer wieder, womöglich zur alljährlichen Besinnung und Erbauung gelesen wird[04]. Bei mir haben die folgenden voluminösen Brocken ‘ne gute Chance, genauso zu einer solchen (mehr oder weniger) regelmäßig-bereichernden Vergewisserungslektüre zu werden.
Neal Stephenson: Der »BAROCK-ZYKLUS« (I. »Quicksilver«; II. »Confusion«; III. »System of the World«) —oder:»It's the economy, stupid« … neben, ach, vielen vielen anderen Dingen.
Wie locker oder verkrampft Phantastik betrieben und gehandhabt wird, hängt meiner Ansicht nach entscheidend davon ab, wie ruppig-leidgeprägt oder segensreich-glatt ein Kulturraum die Groß-Umwälzungen der Zeitenwende zur Moderne erlebte und empfand. Der Anglist Dietrich Schwanitz (1940-2000) schreibt dazu[05]:
»Während die Modernisierung {die Epoche des Übergangs von einer ständisch geprägten Gesellschaft zu einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft} in Deutschland die Gestalt einer finsteren Tragödie annahm, ist die englische Kulturgeschichte bei allen Kosten und Krisen im Vergleich zur deutschen eine Glücksgeschichte – und das heißt eine Comedia Anglica«.
Von allen internationalen Strömungen der Phantastik, ist mir die englische schon früh als besonders verführerisch und ergiebig nahegekommen. Es ist mir deshalb ein besonderes Vergnügen, mit einiger (hoffentlich verzeihbarer) Verspätung nun eine Autorin ausführlicher für MAGIRA zu besprechen, die sich ebenfalls dieser großen Zeitenwende widmet.
Oh je, die böse »Entzauberung der Welt«! Auch wenn sich hinter diesem Schlagwort von Max Weber eine tiefsinnige Reflexion zu dem sich über lange Zeit erstreckenden Intellektualisierungsprozesses der Menschheit, von dem der wissenschaftliche Fortschritt nur ein Teil ist, verbirgt, habe ich mir diese Sicht der Dinge, diese heftige Klage über ein Zuviel an Desillusionierung und ›Ent-Täuschung‹ niemals wirklich zu eigen machen können. In unseren gegenwärtigen Zeiten eines unseeligen »Kampfes der Kulturen« wird diese Klage wieder vermehrt in den verschiedensten Formen vorgebracht, und tritt zum Beispiel als Reibung zwischen religiös-spiritueller und wissenschaftlich-naturalistischer Weltauffassung zutage. Während die einen vom begrüßenswerten, weil notwendigen, Wiedererstarken des Religiösen sprechen, gehen andere kritisch bis hart mit den Religionen ins Gericht und grenzen sich z.T. heftig gegen Mumbojumbo jeglicher Coleur ab.
Pratchett, Steward, Cohen: »DIE GELEHRTEN DER SCHEIBENWELT«—oder:Expeditionen in die Wirklichkeit der geschichtenerzählenden Affen.
Die Übergänge zwischen dem, was man als »Realismus« preist, und dem was man »Phantastik« schimpft sind ja meistens fließender, als auf Dauer bequem ist. Schlicht um nicht durchzudrehen, sparen sich Menschen deshalb üblicherweise, ihre stillschweigenden Annahmen, Übertreibungen und Vereinfachungen die Wirklichkeit betreffend auszubreiten., aber es reicht schon, kurz irgendeiner langfristigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung Aufmerksamkeit zu schenken, um das Knacksen und Rumpeln plattentektonischer Weltbild-Spannungen zu hören. Ziemlich nichtig ist freilich so eine Frage, wie man sich einen »idealen Apfel« vorstellt (grün oder rot), aber bei folgenden Angelegenheiten wird's dann brenzlig: ob Geschlechterrollen biologisch oder durch kulturelle Gepflogenheiten bestimmt werden; ob der Verlauf zivilisatorischer Entwicklungen zyklisch, aufsteigend, irgendwas dazwischen oder völlig anders geartet ist; wie man mit den Widersprüchlichkeiten zwischen solchen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit umgehen soll; wie man sicher sein kann, was Gut und Böse ist. Das klingt jetzt vielleicht ganz schon heavy, aber die nächste Station meiner Lektürereise führt unterhaltsam vor, wie solche Probleme sich auch mit kurzweiliger Abenteuerprosa umkreisen lassen.
Sergeij Lukianenko:DIE»WÄCHTER«-TETRALOGIE—oder:Von den Einen, den Anderen und den ganz Anderen.
Zum Ausklang nach soviel ›englischer Extrentrik‹ und russischem Gemütskolorit, nun eine Rückbesinnung anhand eines Sekundärwerks, dass keinen geringeren Gegenstand behandelt, als den großen (unfreiwilligen) Initialzünder der (auch von mir) oftmals so schmählich beäugten modernen »Feudalismus-Light«-Fantasy.
[01] Aus der dritten Abteilung von »Quintus Fixlein, Hanser 1975, Band 7, S. 195ff. ••• Zurück
[02] Siehe meine »Launischen Eempfehlungen…« in »Magira 2006« zu Büchern von Tobias O. Meissner, Neil Gaiman, Ian R. MacLeod, China Miéville und Jeff Vandermeer. ••• Zurück
[03] Gehört an einem Frankfurter Poetenstammtisch. ••• Zurück
»Vint Cerf aus Kalifornien {Anfang der 80ger einer der Entwickler des Internet-Verbindungsprotokolls TPC und z.B. Vorstandsvorsitzer der ICANN. – Molo}, der sich selbst als Nerd bezeichnete und sich jedes Jahr ein paar Tage freihielt, um wieder einmal den »Herr der Ringe« zu lesen, ist einer der wenigen Männer, die sich wirklich als Väter des Internets bezeichnen können.«
Aus: »Das Lächeln der Medusa – Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben« von Peter Watson; GEO/C. Bertelsmann, S. 1048. ••• Zurück
[05] Dietrich Schwanitz: »Englische Kulturgeschichte«, Eichborn 1996; Seite 9 und 10. ••• Zurück
(Eintrag No. 311; Literatur, Phantastik, Fantasy, Woanders) — Ich freue mich sehr, daß Henry Farrell bei Crooked Timber mit »Jonathan Srange & Mr. Norrell« auf meine Übersetzung verweißt. Henry hat gleich die Katze aus dem Sach gelassen, daß ich mit als nächstes das Crooked Timber Seminar vom Januar 2005 zu China Miévilles »Der Eiserne Rat« vorgenommen habe; entsprechend gab es gleich ein paar Kommentare zu Miéville in Henrys Meldung, und ich mußte ein wenig gegen die Daumen-runter-Urteile dort anschreiben.
Auch bin ich entzückt, daß Konrad Lischka im Seite4-Blog des »Bücher Magazins« über meinen Fantasy mit Fußnoten-Wahn berichtet. Ich hab dort ein bischen gegen Konrads Thesen aus seinem Artikel »Zaubern mit Wörtern« angemosert. Aber ich mag das »Bücher Magazin« trotzdem. Wenn alle meiner Meinung wären, würd ich wahrscheinlich an Langeweile eingehen. Immerhin zeigt Konrad ein gutes Händchen bei seinem Lob für den dicken Schmöker von Clarke.
Hier eine kleine deutschsprachige Rundum-Presse-Verlinkung:
Und zuletzt noch als Zuckerl: Und für Ausgabe 21 des Podcast-Radio »Schriftsonar« hat sich Michael Schneiberg des Romans angenommen. (Zuerst geht es um Nancy Kress. Etwa ab der Hälfte des ersten Teils der Sendung geht die Rezi zu JS&MN los.)
Vielend Dank an den Malzan'schen Freund und Retter, den TeichDragon aus dem BibPhant-Forum. (Ich bin im Augenblick ganz feierlich vor lauter Phantastik-Internet-Kammeraderie).
Ich hoffe, die gegebenen PDF-Links zur deutschen Fassung funktionieren. Falls es Probleme gibt, schick ich das ca. 1MB größe Dokument auch gern per eMail. Zwecks Kontakt, siehe unten. — Die einzelnen Seminarbeiträge habe ich auch als Kommentare zu diesem Molochronik-Eintrag hier eingepflegt, für die ganz Harten, die so viel Text am Bildschirm lesen mögen. Es sind 53 PDF-Seiten mit 103 Fußnoten. Falls also Ihr Browser mit diesem Molochronikeintrag inkl. seiner Kommentare etwas lahmen sollte, wundern sie sich nicht.
Hier Henry Farrells einleitende Worte vom November 2005.
Die Namen-Links der einzelnen Autoren und Autorinnen führen zu den englischen Originalfassungen bei Crooked Timber, die Essay-Titel-Links zu den hier in den Kommentaren gelieferten deutschen Fassungen.
EinleitungSusanna Clarkes Roman Jonathan Strange und Mr. Norrell ist mit außerordentlich großem Erfolg angenommen worden, mit gutem Grund. Der Roman wurde mit dem Hugo und dem World Fantasy Award[1] ausgezeichnet, hat aber auch viele Leser für sich gewinnen können, die sich gewöhnlicherweise nicht für Fantasy interessieren. Einserseits meint Neil Gaiman[2] über das Buch, es sei »ohne Zweifel der gelungenste Roman englischer Phantastik, der in den letzten siebzig Jahren geschrieben wurde« (zu dem betonenden Adjektiv ›englisch‹ folgt später noch mehr), auf der anderen Seite beschreibt Charles Palliser, Autor des wunderbaren Historienromans Quincunx. Das Geheimnis der fünf Rosen, es als »völlig fesselnd« und als »eine erstaunliche Leistung.« Wir hier von Crooked Timber sind seit dem das Buch erschienen ist Fans — nicht zuletzt wegen seiner lustigen, umfangreichen und abschweifenden Fußnoten, die den Eindruck erwecken mit nahezu vollkommenen Kalkül dafür gemacht worden zu sein, um einem gewissen akademischen Typus zu gefallen.
{…}
John Quiggin behauptet in Die Magisch-Industrielle Revolution, daß der Roman zu den Ursprüngen der Science Fiction zurückkehrt, weil er sich mit den Auswirkungen der Industriellen Revolution auseinandersetzt.
Maria Farrell legt in Die Schürfgründe der Historie dar, wie der Roman geprägt ist vom Aufeinanderprallen zweier Welten: auf der einen Seite ein Regency England wie man es sich entsprechend der Romane von Jane Austen und anderen ›romance novels‹ vorstellt, und dem tatsächlichen Regency Engand auf der anderen Seite.
Belle Waring fragt in sich Wer erzählt Jonathan Strage & Mr. Norrell, und sind die Zauberinnen geblieben?, wer die Erzählstimme des Buches ist, und wo die Zauberinnen geblieben sind (und sie mutmaßt, daß beide Frage zur selben Antwort führen).
John Holbo richtet in Zwei Geddanken (Über christliche Zauberer und Zwei Städte) seine Aufmerksamkeit auf Zauberei, Ironie und die Darstellung von Dienern durch Clarke.
Henry Farrell ist in Rückkehr des Königs der Ansicht, daß eine Kritik an der englischen Gesellschaft die versteckte Geschichte von Jonathan Strange und Mr. Norrell ist.
Auf all das antwortet zuletzt Susanna Clarke mit Frauen und Männer; Diener und Herren; England und die Engländer.
Wie schon frühere CT-Seminare wird dieses hier unter den Creative Commons Lizenz-Bedingungen veröffentlicht (Namensnennung-NichtKommerziell 2.5). Das Copyright der zitierten Passagen aus Jonathan Stange und Mr Norrell oder anderer Texte wird gemäß der Gepflogenheiten redlicher Verwendung nicht beeinträchtigt.
Die Kommentarfunktion zu den einzelnen englischen Seminarbeirägen sind im Crooked Timber-Blog freigeschaltet. Wir möchten dazu ermuntern, allgemeine Kommentare bei Susannas Beitrag zu platzieren, denn dort wird die Hauptdiskussion geführt; wer spezielle Anmerkungen zu einem der Seminarbeitäge anbringen möchte, kann das in den Kommentaren zum jeweiligen Beitrag machen.
Dieses Seminar ist auf englisch als PDF verfügbar, für alle, die Texte lieber ausdrucken und auf Papier lesen.
— Henry Farrell, November 2005.
Zur Übersetzung des Seminars
Anders als in der englischen Originalfassung, habe ich die Quellenangaben der Zitate in dieser Übersetzung als Fußnoten formatiert. Zudem habe mir erlaubt, die Fußnoten um hilfreiche Fußnoten für die deutschen Leser zu ergänzen. Da ich kein ausgebildeter, professioneller, sondern nur ein (hoffentlich im positiven Sinne des Wortes) ›dilettantischer‹ Hobbyübersetzer und ›Edel-Phantastik-Fachdepp‹ bin, bitte ich etwaige Fehler und Ungereimtheiten, die Ihnen auffallen mögen nicht allzu Übel zu nehmen.
Über entsprechende Korrekturmeldungen würde ich mich freuen und bin im Voraus dankbar dafür. Auch den Damen und Herren der JvG-Universitätsbibliothek, sowie der Deutschen Bibliothek zu Frankfurt/M bin ich für ihr freundliches Entgegenkommen zu Dank verpflichtet.
— Alex Müller / molosovsky, November 2006.
Korrekturmeldungen bitte per eMail an
molosovsky@yahoo.de
richten (Sternchen weglassen)
Beginn der Arbeit an dieser Übersetzung: 16. Oktober '06.
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1Hugo Award: Ein seit 1953 jährlich durch die Teilnehmer der SF-World-Con verliehener SF-Preis; benannt nach dem SF-Pionier Hugo Greensback. –/– World Fantasy Award: Wird jährlich auf der World Fantasy Convention seit 1975 verliehen. ••• Zurück
2Neil Gaiman (1960): Englischer Phantastik-, Jugendbuch- und Drehbuchautor. Bekannt geworden in den Neunzigerjahren mit dem Comic-Epos The Sandman, sowie einer Biographie über den Per Anhalter durch die Galaxis-Schöpfer Douglas Adams; Autor der Romane Niemalsland, American Gods und Anansi Boys. ••• Zurück
… Freude!
Eintrag No. 303 — Schon in ein paar Tagen (am 06. Oktober) erscheint »Die Damen von Grace Adieu« von Susanna Clarke bei Bloomsbury Berlin.
Clarke hat ja mit ihrem voluminösen »Jonathan Strange & Mr. Norrell« (desweiteren: JS&MN) so richtig auf den Putz gehaun. Da finden sich die Realweltgeschichte vom beginnenden 19. Jahrhundert und alt-nordenglische Magiewelt-Mythen zu einer ganz verzüglichen Phantastik verzwribelt; zu edel (wie ich find), um das sprachlich wie auch begrifflich ungeschickt importierte Genre-Label ›Fantasy‹ draufzupappen; und doch wie keck von einer so vorzüglichen Autorin, es selbstbewußt dann doch zu tun!
Immerhin!: Leser ›richtiger‹ Romane, die sonst alle Gesichtsmuskeln verreißen wenn man ihnen mit ›Fäntäsy‹-Phantastik vor der Brille rumfuchtelt, entspannten sich willig anhand einer edelfederigsten Prosa, deren Haltung und Ton sich des ausgesprochen fruchtbaren Respekts & Insprisierenlassens von Frau Clarke für & von Klassikern der portraitierten Epoche, wie Jane Austen und Charles Dickens, verdankt. Und Lesern, welche sonst eher ziemlich Genre-Phantastik-lastig zu schmökern belieben (siehe ›die Markt-Marke Fantasy‹), wird eine feine Gelegenheit geboten, sich von eher altmodischen Prosa-Registern verführen (und hinreissen und bilden!) zu lassen.
Das ist eine gute Gelegenheit ein wenig über die Wonnen der englischsprachigen Literatur- und Geisteswissenschafts-Bloggerei zu jubilieren. Wenn sich z.B. 15 kommunikations- und diskrus-freudige Akademiker zusammengefinden, sich ihren Gruppen-Blog-Namen aus einem markigen Zitat vom großen Deutschen Immanuel Kant borgen, um fürderhin unter Crooked Timber mit anregenden Beiträgen großzügig die Blogosphäre zu bereichern… alles für umme zu lesen, wenn man sich nur des Englischen mächtig genug wähnt.
Grad den ›typischen‹ (mal polemisch imaginierten*) bezahlten deutschsprachigen 08/15-Literaturvermittlern möchte ich hiermit ganz besonders die Crooked Timer Seminare (unter ›book events‹ links weiter unten zu finden) zur inniglichen Orientierung nahelegen. — Nun sind die Geisteswusler vom krummen Holz von Beginn an Fans von JS&MN gewesen, und haben entsprechend eines ihrer Seminare diesem Roman gewidmet. Nur mal so als Beispiel, wie man intelligent, verständlich und verständnisvoll über ›Fantasy‹ schreiben kann hier eine kleine Übersicht: (jaja, schon richtig: bei Fantasy vom Qualitätskaliber eines JS&MN ists nicht so schwer, auch als in E-Gefilden konditionierter Literatur-Bespiegler was Gescheites zusammenzureflektieren):
• John Quiggin behauptet, daß der Roman an den eigentlichen Wurzeln der Science Fiction anknüpft, denn bei SF geht es im Grundbass um die Zeitenwende- und Wirkungen der Industrielle Revolution. • Maria Farrell meint, daß das buch ein Aufeinandertreffen zwischen dem von Jane Austen imaginierten Regency-England und ›romance novels‹ auf der einen Seite, und der tatsächlichen geschichtlichen Regency-Epoche auf der anderen Seite ist. • Belle Waring fragt sich, wer der/die Erzähler/in des Buches ist, und wohin die weiblichen Zauberer eigentlich sind (und mutmaßt, daß beide Fragen durch eine Antwort erhellt werden). • John Holbo untersucht Zauberei, Ironie und die Darstellung der Diener-Klasse. • Henry Farrell behauptet, daß die versteckte Handlung des Romans eine Kritik an der englischen Gesellschaft darstellt. • Und zuletzt antwortet Susanna Clarke (sehr aufschlußreicher Werkstatteinbick, sozusagen).
Und für jene, denen das zum am Bildschirm-, im Netz-Lesen viel zu viel Text ist, bietet Crooked Timber einen englischen PDF-Service-Link zum Ausdrucken. {15. Nov. ‘06: EDIT-NACHTRAG — Mittlerweile hab ich vor lauter »Ich Muß Was Nützliches In Meiner Zeit Tun« das ganze Seminar übersetzt. Hier geht’s zum entsprechenden Molochronikeintrag, und hier der Klick für ein deutsches PDF.}
Wieder zum neuen Buch mit Kurzgeschichten von Susanna Clarke.
Ungemein enttäuscht bin ich, daß Bloomsbury Berlin die durch höchste Kunstfertigkeit und Eleganz brillierenden 20 Illustrationen von Charles Vess NICHT dem deutschen Publikum von »Die Damen von Grace Adieu« offeriert. Nach dem guten Verkauf von JS&MN wär doch eine etwas aufwändigere Ausgabe drinn gewesen, oder? — Dass Heyne damals Neil Gaimans/Charles Vess »Stardust« ohne die Vess-Illus veröffentlichte, geht ja noch irgendwie in mein Produktions- & Gewinnmargenkalkül-verständiges Hirn. — Aber schluß jetzt mit Genöle.
Soweit ich bisher mitbekommen habe, sind die neuen Geschichten von Clarke in der selben (oder doch sehr ähnlichen) Welt wie JS&MN angesiedelt. Auch auf Deutsch gibts eine der Geschichten für umme auf der (sehr schönen!) Verlags-Site zu Clarke: »Der Herzog von Wellington geht seines Pferdes verlustig«.
Viel Vergnügen mit all den Umsonstlektüren wünsch ich noch.
* — Und falls sich einige bezahlte Literaturvermittler und -bewerter arg auf den Schlips getreten fühlen: bitte nehmt dies schlimmstenfalls als meine anbiedernde Versuche, Euch alle anzuregen, mindestens so geschickt über Phantastik für's Feuillition zu schreiben, wie z.B. (um spontan einige willkürliche Namen zu nennen) Dietmar Dath, Marcus Hammerschitt, Denis Scheck, Thea Dorn und Georg Seeslen.
(Eintrag No. 295; Woanders, Phantastik-Meister) — Schnell bescheidgeben will ich nur: Zuerst merk ich heut erst, daß das englische genre-magazin <a href="www.thealienonline.net "target=_blank">Alien Online ein blog führt. Dort find ich meinen weg zum blog des Londoner phantastik-kauf-tempels <a href="www.forbiddenplanet.co.uk" target=_blank">Forbidden Planet, und dort stolper ich über die meldung, daß der großartig-altmodische illustrator/graphiker Charles Vess unter die blogger gegangen ist.
Besonders großen eindruck auf mich macht sein derzeit neuester eintrag über Vess' arbeit an den illustrationen für den kommenden erzählungs-band von Susanna Clarke: »The Ladies of Grace Adieu« — Bleibt die daumen zu drücken, daß diesmal die arbeit des künstlers Vess dem hiesigen puplikum vom deutschen herausgeber offeriert, nachdem das bei dem von Vess geschmückten Gaiman-buch »Stardust« nicht klappte.
(Portrait) – Mag eine zwiefach zweifelhafte Ehre sein, A) von mir verskribbelt zu werden und B) als Kollegen des Gezeichnetseins (bisher) neben Burkhard Spinnen und M. R. R. zu stehen.
Seis drumm.
Auch die heutige Druckfrisch-Sendung (ARD) war wieder kurzweilig. Schon in seiner letzten Sendung hat mich Herr Scheck mit einem Aphorismus erfreut:
»… Die Realität {ist} nur der Ort des Eskapismus derjenigen, die für das Reich der Magie nicht stark genug sind. «
Die Zeichnung entstand beim Gucken des Klagenfurter Reigenlesens 2001.
Denis Scheck … one of the very few critics in Germany who doesn’t flinch from fantastic literature. In his recommendation of Susanna Clarkes »Jonathan Strange and Mr. Norrel« he said:
»… reality†is the place of escapism for those, who are too weak for the realm of magic.«
† Meaning realistic, non-fantastic narrations and fictions.