Eintrag No. 731 — In schneller Zugriffshöhe meines nord-östlichen Billy-Regals (einem 80-er) befindet sich eine der Mischkulanz-Abteilungen, in der alles mögliche zu finden ist: Bücher, die ich vor kurzem gelesen habe; Bücher, die ich bald mal lesen will; Bücher, die ich angefangen, aber zur Seite gelegt habe, weil ich (ADHS-Übererfüller, der ich zuweilen sein kann … was? … Moment … worum geht’s nochmal? … ach ja — oh! Kabanossi! …) von einem anderen Buch abgelenkt wurde; Bücher, in denen ich gerne hin und wieder blättere.
Links gehts los mit vier dollen Bänden von Gerstenbergs Visueller Enzyklopädie (Neuzeit, Mittelalter, Altre Kulturen, Erdgeschichte & Evolution). Nebebei: ist diese Reihe eingestellt wordern? Wenn ja, wäre das eine Schande!
— Zum zwischendurch mal Blättern: Friedells »Kulturgeschichte der Neuzeit« (Schutzumschlag war so hässlich, dass ich einen selber improvisiert habe); Kischs Anthologie »Klassischer Journalismus«; »Wie man ein Buch liest« von Adler & Van Doren; und »Bücher, die die Welt verändern« (= »Printing and the Mind of Man«, 1967).
— Will ich bald lesen (= Wibl): »Tod in Bagdad« von Wolfgang Günter Lerch; Lese ich immer wieder gerne: »Iden des März« von Thornten Wilder.
— Nun einige Belegexemplare von Golkonda (u.a. »Kahlschlag« von Joe R. Lansdale) und Shayol, sowie Simon Spiegels Buch über Todorovs Phantastik-Theorie, die alle eigentlich mal einen würdigeren Platz (z.B. bei meinen »Magira«-Belegexemplaren) verdient hätten
— Wibl: Frank Böhmerts Kurzgeschichten & Romandebüt.
— Vor kurzem gelesen: 2 x Kurzgeschichten aus dem Shayol-Verlag (»Raumanzüge & Räuberpistolen« und »Das Flüstern zwischen den Zweigen«).
— Dazwischen völlig planlos van den Booms »Tentakelschatten«.
— Die neue deutsche Ausgabe der ›Titus‹-Bücher von Mervyn Peake, eine englische Sammlung mit Peake-Kurzgeschichten, sowie der Bildband »The Man and His Art« zu Peaks künstlerischen Schaffen.
— Zwei Bildbände zum Werk von Alfred Kubin, die Neuausgabe von »Die andere Seite« und zwei Bände verschiedener Kubin-Schriften .
Es geht weiter mit dem, was hier in der zweiten Reihe steht.
Gelesen und noch nicht gescheit wegsortiert: Haefs »Die Rache des Kaisers«; Heitz »Die Mächte des Feuers«; die englischen »Scott Pilgrim«-Comics; Sloterdijks »Philosophische Temperamente«. — rausgezogen und falsch aufgeräumt: Spotos Hitchcock-Biographie; die neue platzsparende Fischer-TB-Ausgabe von Michael Walters »Tristram Shandy«-Übersetzung; englischer »Hagakure«-Auswahlband; ein Kelly Link-Kurzgeschichtenband (eigentlich Andreas; ich hab »Magic For Beginners« als eBook).
Angelesen und erstmal zur Seite gelegt: Bolanos »2666«; Buch 2 bis 4 von Manns ›Joseph‹-Quatro (Buch 1 liegt auf dem Sofa-Tisch) und sein »Zauberberg«; Murakamis »Hardboiled Wonderland«; Harrisons »Licht«, Band 1 der TB-Ausgabe der Strugatzki-Brüder. — Und auf Vorrat für den zweiten Anlauf besorgt, und weil ich es vom Übersetzer signieren lassen konnte: Eriksons »Die Gärten des Mondes«.
Die Kunst, die Kunst ist heilig!
Sämmtliche Berichte.
Weiter Nichts als die Fortsetzung des Vorhergehenden.
»Wie?«, sagte Schwadronarius zu sich, »es gibt also überall Akademien und ein Comité übt hier wie auf der Erde sein Recht über Leben und Tod von Kunstwerken aus. Auch hier werden gute Bilder verworfen und schlechte mit dem Preise belohnt und angekauft und Dame Fortuna treibt ihr loses Spiel bis zu Ende dieses Trauerspiels, indem sie noch zu guter Letzt Vulcan, wie er Mars und Venus ertappt, einem Priester, Leda mit dem Schwan der Vorsteherin einer Töchterschule oder das Portrait des heiligen Ignatius einem Generalsuperindentenden zuwirft. Ihr armen Künstler, wie seid Ihr zu bedauern!«
In demselben Augenblick wurden drei Frachtwagen voll von Meisterwerken im Hofe des Gebäudes, in welchem die Ausstellung Statt fand, abgeladen. Es waren Gemälde der berühmtesten lebenden Künstler, die erst ankamen, als die Ausstellung schon begonnen, und dadurch nach weiser Berechnung die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich ziehen mussten. Einer jener großen Meister, der schon seit langer Zeit den Genius noch dem Ellenmaße zu schätzen pflegte, hatte sogar die Erlaubnis erhalten, die Tor- und Türflügel ausheben zu lassen, da sein unsterbliches Werk zu groß war, um auf gewöhnlichem Wege in den Saal zu gelangen.
Es war ein Stossen, Drängen, Treiben, im Hofe wie in den Gemächern, wovon man sich keinen Begriff macht. Tapezierer nagelten den Ruhm der Künstler fest; Tagelöhner schleppten ihn auf den Schultern herbei; dazwischen Maler, die sich schon an dem Strahlenschein ihrer Unsterblichkeit sonnten, welche die Journalreferenten ihnen fest versprochen, verkannte Genies, deren außerordentliche Leistungen durch die Kabalen der Akademiker zurückgewiesen worden, Gaffer und Recenzenten, Kunstfreunde und Kunsthändler; Alle trieben sich bunt durch einander und erwarteten mit Ungeduld den Augenblick, in welchem das Heiligtum der Künste dem Publicum zugänglich fein würde.
Endlich schlug die heißersehnte Stunde; Alles eilte herbei und Schwadronarius sah sich plötzlich, wie durch ein Wunder, von der Menge getragen, in den Salon versetzt.
Einer seiner Nachbarn ließ seinen Catalog fallen, setzte aber, seltsamer Weise, seine Wanderung durch die Säle fort, ohne sich im Mindersten darum zu kümmern. Schwadronarius hob den gedruckten Führer auf, und suchte in demselben nun eifrig diejenigen Nummern, die seine Aufmerksamkeit besonders fesselten. Es waren nur solche, welche die Marke »Preisstück« oder »Verkauft« trugen und deren nähere Beschreibung wir hier folgen lassen.
Verzeichnis
der
in der 1777 Ausstellung der Königlich Ypsilonischen Akademie zu Tezett befindlichen Werke der Kunst.
Raphael Weiß aus Sandathen, gegenwärtig in Tiberias.
100. »Der Engel der Vernunft, der Gottes Gnade für das Comité anfleht.«
Caspar Grünkohl aus Krautstadt.
200. »Virgils Eloge«:
Tityre tu patulae recubans sub tegmine fagi
Sylvestrem tenui musam meditaris avena.
{Anfang der ersten Ekloge von Virgil:
Tityrus, unter dem Dach der gebreiteten Buche gelagert;
Sinnst du, ein ländliches Lied zarthalmigem Rohr zu entlocken.}
Jeremias Bibeler aus Mühlnachflorenz.
410. »Der Durchgang durch das Rote Meer.«
Fortunio Zange aus Sandathen.
329. »Torsos zweier Vestalinnen.«
Herrmann Maienlust aus Dusselstadt.
802. »Kinder, die mit Maikäfern spielen«. Der kunstreich geschnitzte Rahmen hat die Inschrift:
Maikäferlein, des Frühlings Kind,
Das sich von Grase nähret lind,
Ist schöne Zierde der Natur
Und Lust der Jugend auf der Flur.
Nicolaus Hundepieter aus Zaanredam.
101. »Tobende Wellen«. — (Preisstück)
Michael Lack aus Fabrikenlust.
1843. Deckel einer Tabaksdose, das Jüngste Gericht darstellend, auf Porzellan gemalt.
Hans Bräunler, Hofmaler des Fürsten von Hammeldorf.
130. Rückenbild der Frau von Icks! — Lebensgröße, in Öl all prima, in drei Minuten gemalt. — Eigentum des Originals.
Narciß Scheidwasser aus Goldstadt.
9999. Außerordentlich kunstreich gearbeiteter, in Holz geschnitzter Rahmen, mit galvanoplastischer Vergoldung.
Anm. Zu der Vergoldung wurden 1379 holländische Ducaten aufgelöst und verwandt.
Johann Maria Nepumuk Malz aus Bierheim.
600. »Der Zeitungsleser«
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Brillen und Lorgetten, Operngucker und Augen, Jedes bewundert diese Meisterwerke auf seine Weise. An der Tür wird das Kunstblatt, redigiert von einer Gruppe von Pinseln, feilgeboten. Schwadronarius kauft sich ein Exemplar. — Erst seit zwei Stunden ist die Kunstausstellung geöffnet und der Schußbericht des Referenten schon gedruckt hier zu lesen. Es heißt darin unter Anderem:
Die vorjährige Kunstaustellung war bei Weitem großartiger. Unsere berühmtesten Maler haben Nichts eingesandt. Die Kunst ist furchtbar in Verfall, sie liegt in den letzten Zügen, sie sank in die alte Barbarei zurück.
Ferner:
Unvergleichlich ist das Bataillenstück {= Schlachtenbild} unseres großen Meisters Johannes Mischlein. — Welche Verwirrung, welcher Kampf, welcher Wirbel, welcher Orkan der Leidenschaft! Wütende Häupter, drohende Arme, Säbel, Piken, Pallasche, Alles scheint zu leben, Alles tritt aus dem Bilde heraus. — Die Aufseher werden wohl tun dafür zu sorgen, dass die Zuschauer diesem erhabenen Bilde nicht zu nahe kommen; Unfälle würden unvermeidlich sein.
Als man heute Morgen ein Fenster öffnete, um eine Dame die von der Hitze ohnmächtig geworden war, frische Luft schöpfen zu lassen, flogen einige Sperlinge herein und wollten sich auf die Bäume der Landschaft Nr. 3734 von Heinrich Saftgrün aus Dusselstadt setzten, welche einen Kirschenberg darstellt, und die Kirschen anpicken. Das Bild, das der Meister einer russischen Fürstin und großen Kunstfreundin abgeschlagen, die ihm hunderttausend Rubel Silber dafür geboten, um es seinem Vaterlande zu erhalten, lief große Gefahr sehr beschädigt zu werden, denn die Sperlinge liessen sich mit außerordentlicher Mühe vertreiben.
Ein Sonnenaufgang von dem genialen jungen Künstler Andreas Glutschein, der eben erst aus Tiberias zurückgekehrt ist, blendete die Beschauer dermaßen, dass sie die Augen schützen mussten, um das Meisterwerk mit Genuss betrachten zu können.
Leider hat unser berühmter Austerfalk dies Mal nur ein einziges Stillleben eingereicht, ein Messerchen und eine zerschnittene Zwiebel auf einem Tischchen darstellend. — Es ist für den geringen Preis von 200 Hansd'or Eigentum des großen Kunstfreundes, des Grafen von Ricksstumpfgoldhausdorf auf Serbenhochstadthausen, geworden und bestimmt, dessen neu erbauten Speisesaal als Hauptschmuck zu zieren.
Was die Werke der Sculptur betrifft, so erwähnen wir nur »Der Finger Gottes«, ein gigantisches Werk, dessen Origialität die schönsten Conceptionen der Antike und des Cinquecento wie der Renaissance weit überflügelt. Der Meister Wilibald Haumeister hat zwanzig volle Jahre seines Lebens darauf verwandt und es erst heute Morgen mit besonderer Erlaubnis im Saale der Ausstellung selbst vollendet; eine unerhörte Gunst, in welcher man deutlich den Finger Gottes sieht. — Auch sagt man, dass Se. Majestät unser allerfrömmster König es nicht allein gekauft, um den Eingang der Hofkirche damit zu schmücken, sondern auch sogleich das noch fehlende notwendige Seitenstück, »Das Auge der Vorsehung«, bei dem großem Meister bestellt habe. Möge eine höhere Macht ihm Kraft und Gesundheit verleihen, dass er dies unsterbliche Werk — dereinst der größte Schmuck unserer sich reich ausgestatteten Residenz — glücklich ausführe!
»Wahrlich!«, rief Schwadronaius, »das nenn’ ich unparteiische Kritik!«
Unser Neugott wähnte noch auf Erden zu fein und überzeugte sich erst von seinem Irrtum, als er in einen Saal kam, vor dessen Betreten Kinder und Damen gewarnt wurden. Desto schlimmer für sie, wenn sie sich doch hinein wagten! Dieser Saal war allein für die schalkhaften Werke bestimmt, man sah hier die Kunst im Bade und die Muse im Morgenanzuge. Ehe Schwadronarius näher trat, gewahrte er noch zwei unglückliche Künstler, deren Arbeiten in Folge einer akademischen Intrigue so hoch hingen, dass sie selbst den Kopf von hinten mit dem Stocke stützen mussten, denn sie hätten sonst leicht das Genick brechen können, ehe sie noch ihre eigenen Leistungen erblickten.
Schwadronarius wollte eben jene schalkhaften Werke näherer Betrachtung unterwerfen, da schlug es drei und man zeigte ihm, wie dem gesammten Publicum, höflich die Tür.
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Eintrag No. 729 — Weiter geht es mit dem nord-östlichen Billy-Regal (einem 80-er), in dem meine erste Abteilung Bildbände mit Kunst, Karikaturen und Phantastik stehen.
Von links aus geht es los mit dem Japaner Higashiyama Kaii (dessen Ausstellung in Hamburg ich 1989 besucht habe), wunderbare Meditationsvorlagen;
— dann gleich krasser Stilwechsel hin zu den bissigen Satirezeichnern Cássio Loredano und Ralph Steadman;
— an die reiht sich der etwas gediegenere (aber immer noch böse) Roland Searle, der zur Mischung ›klassischer‹ 70-er & 80-er-Jahre Fantasy-Künstler überleitet: die »The Studio«-Gruppe (Wrightson, Kaluta, Windsor-Smith), sowie Josh Kirby (der ältere, verstorbene bedeutende ›Scheibenwelt‹-Künstler);
— etwas ungeordnet daraufhin altehrwürdige Exzentrik von Archimboldo und Piranesi;
— großartig die feinen Sachen des Italieners Tullio Pericoli;
— weiter mit Altmeistern Bosch, Breughel, Rops und natürlich Escher;
— hier einer von zwei Giger-Bänden, der nicht bei den riesigen Schinken steht (die befinden sich in einem der Ausnahme-Regale für besonders große Bücher);
— links und rechts eines kleinen Bandes mit Grosz-Zeichnunen dann die beiden mir kostbarsten Bücher dieses Bildbandregals: Werke der leider kaum bekannten deutschen Satire- und Phantastikmeister A. Paul Weber und Fabius von Gugel;
— dann eine Batterie der mittlerweile anerkannten ›Witzebild‹-Künstler Hans-Georg Rauch, die unvergleich genialen Diogenes-Bände von F. K. Wächter , die Haffmans- (bzw. Kain & Aber-)Bücher von Kriegel, Heidelbach, Sowa und schließllich der unschätzbar ergiebige Wälzer »Bernsteins Buch der Zeichnerei« (Plichtlektüre für jeden Zeichenstift-Schwinger! Leider dazu nix im Netzl.);
— rechts tröpfelt es dann etwas ungeordnet mit Büchern von Klös, Ehrt und Karikaturen-Anthos aus. Der dicke Sachbildband »Ornament & Abstraktion« gehört Andrea, steht aber schon lange bei mir.
Obenauf liegen Ramschverkaufsexemplare der Frankfurter Stadtbücherei: wunderschön illustrierte Ausgaben von Stevensons »Die Schatzinsel« (dt.; Illus von Eleonore Schmidt) und Scotts »Ivanhoe« (engl.; Illus von Christopher Bradbury). Schließlich noch eine Sammlung mit Chas Adams-Cartoons und das Buch, welches man nur von der Seite sieht ist ein Band mit zotigen Seemans-Cartoons von Jan Sanders.
Eintrag No. 728 — Veränderung von Molos Kommunikations-Gebahren. Noch ist die Soschial-Nätwörg-Funktion ›Google+‹ in der Beta-Phase, aber ich habe mich zur Gruppe der bereits Teilnehmen gesellt. ›Facebook‹ war nie 'ne Option für mich. Zu umständlich, zu undurchsichtig, zu beschränkt, zu gierig und unterm Strich: nicht sexy, nicht Molo-like genug. Auch wenn Google zweifelsohne ebenfalls ziemlich unheimliche, sinistere Aspekte hat, macht Google+ auf mich vom Fleck weg einen besseren Eindruck. Ist eine Mischung aus Netzwerkerei (bilde Deine Kreise), Twitter- und Kurzbloggerei. Kreise kann man erstellen wie's einem taugt, aber es wird anderen nicht angezeigt, in welche Kreise man die Leuz, denen man folgt, eingeteilt hat (vorstellbar ist z.B. ein Kreis namens ›Volltrottel über deren Stuss ich mich beeumel‹) . Soviel verrate ich, dass mein erster selbst gezirkelter Kreis ›Phantasten‹ heißt.
Ab nun werde ich die Links, welche ich für einen im Werden befindlichen Wochenrückblick sammle, auf die Schnelle via meinem Google+-Konto verbreiten. Dienstags gibts dann wie gewohnt die geballte Ladung dieser Links in der Molochronik. — Neu ist auch der ›+1‹-Knopf oben in der rechten Spalte. Mit dem kann man die Molochronik ›plussen‹, sprich: empfehlen (erhört mein Ranking & wasnichtnochalles).
Schluss mit dem Getüdel. Es gibt viele Links diese Woche. Also los.
Halt. Stopp. Eines noch. Die Links sind diesmal nach etwas anderen Begriffen sortiert. Lasst mich wissen, ob Ihr die alte oder die neue Methode besser findet.
»Blödmaschinen«: Leider hatte ich selbst noch nicht die Zeit & Muse, einen eigenen Beitrag über mein großartiges Leseerlebnis mit diesem Buch von Markus Metz & Georg Seeßlen zu verfassen. Immerhin kann ich auf eine gute Rezension von Jürgen Nielsen-Sikora bei ›Glanz & Elend‹ verlinken: Die Herrschaft der Narren.
— Großer Spaß auch, wie Herr Seeßlen seinem Blog (›Das Schönste an Deutschland sind die Autobahnen‹) in einem zweiten Nachtrag zum Buch auf eine mittlerweile ausgestrahlte Radio-Rezi eingeht, die dem Buch u.a. »undifferenziertes Geraune« (und wie geht ›differenziertes Geraune‹) und »obszönen Exzess an Kritik« vorwirft.
— Nebenbei-Empfehlung: Zur Klärung & Erforschung des Begriffes ›obszön‹ verweise ich auf den enorm gehaltreichen Band »Jahrhundert der Obszönität« von Eckhard Henscheid & Gerhard Henschel. Darin auch das prächtige Herbert Marcuse-Zitat:
Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals im vollen Wichs.
Entsprechend: Nicht die analytische Untersuchung und dialektische Kritik der Blödmaschinen ist obszöner Exzess (der Kritik), sondern eben die Totalität der Herrschaft und Stupiditätsfabrikation der Blödmaschinen.
Bescheidgeb: Der Verbrecher Verlag hat die Tagebücher von Erich Mühsam ins Netzel gestellt: Mühsam Tagebuch. Die Aufbereitung ist vorbildlich. Glosar ist integriert (Klick auf’n Begriff öffnet links eine Erläuterung), und Klick auf’s Datum zu Beginn eines Tagebucheintrages öffnet Fenster zu einem Scan der Originalseite. Ganz großes Lob!
Großartige Radiostunde! BR2 »Radiospitzen« widmet eine Sendung den diesjährigen Preisträger des Salzburger Stiers: »Cordoba – Das Rückspiel« von Florian Scheuba und Rupert Henning. Schauspieler Cornelius Obonya brilliert in allen Rollen des Stückes über ostdeutsche Flüchtlinge, einheimische Österreicher, türkische Geschäftsleute, deutsche & russische Touristen ext. — Gönnt Euch die Sendung, solange sie noch im Netz steht.
Auf den Seiten des österreichischen ›Der Standard‹ bespricht Josefson in seiner diesmonatigen SF- & Fantasy-Rundschau Die Dampf-Revolution Bücher von: David Marusek (Golkonda Verlag! Yeah!), Jeff VanderMeer, Stephen Baxter, Antoine Volodine, A. Lee Martinez, Paul di Filippo, Scott Westerfeld (»Behemoth«, Yeah!), Tobias O. Meißner, Jonathan Strahan, Ronald Malfi und Stephen Hunt.
›SF-Fan‹ vermeldet die Empfänger der Kurd-Laßwitz-Preise 2011. Besonders freuen mich freilich die Preise an China Miéville (für »Die Stadt & Die Stadt«) und Juliane Gräbener-Müller & Nikolaus Stingl (für die Übersetzung von Neal Stephensons »Anathem«).
Jubiläum: Am kommenden Samstag, den 09. Juli, kann man den hundersten Geburtstag von Mervyn Peake feiern. Im Vorfeld dazu bot letzte Woche der ›Guardian‹ schon mal A celebration of the writing and art of Mervyn Peake. Michael Moorcock portatiert vor allem den Menschen Peake, seine Wiederentdeckung bei Penguin Modern Classics; — Hilary Spurling preist das zeichnerische Werk von Peake; — China Miéville beschäftigt sich mit den »Gormenghast«-Büchern; — und AL Kennedy schreibt über Peaks Verhältnis zu der Insel Sark.
Zuckerl: Popkultur & Kunst
Neues Dauer-Lesezeichen: Interessantes, simples Projekt verfolgt das ›Blog für Leser‹Fünf Bücher von Melanie Voß und Philippe Wyssen.
Kunst (1): Als wären Asteroiden in der Galerie eingeschlagen, oder als hätten gigantsche, mythisch-monströse Ur-Viecher Eier gelegt, so wirken die andersweltlichen Papierobjekte (im ›This is Colossal‹-Blog) des koreanischen Künstlers Chun Kwang Young.
Kunst (2): Grandios wandelt Kate MacDowell mit ihren (zumeist weißen) Skulpturen auf dem schmalen Grat zwischen Verstörung und Bezauberung. Meine Favoriten in ihrem Portfolio: Hase mit Gasmaske; — sezierter Frosch mit Menschenfötus; — das Wurzelhirn. — Würde ich gerne mal im Original sehen.
Schockschwerenot! Matteo Bittanti und IOCOSE haben mit der Photographin Kenzie Burchell eine erschütternde Bilderserie aufgenommen, die uns die Folgen von maßlosen Daddeln zeigen: Game Arthritis. Gottseidank stelle ich an mir selbst keinerlei erste Anzeichen eines ›Playstation Daumes‹ fest … trotzdem überlege ich, meine PS3 sofort zu entsorgen. — (Entwarnung: Das ganze ist fiese, brillante, ernste Satire, aber eben brutal verstörend dank der Arbeit der Maskenbildnerin Emma Alexandra Watts.)
Raumkunst: Der polnische Künstler Marek Tomasik hat aus Holz und Computerschrott eine Rauminstallertion geschaffen, die überwältigend ist. Hier zu einem Bericht bei ›Laughing Squid‹ (engl.) mit Filmchen, Photos und (ohne nervigen Computersound), und hier zur Raumphoto-Seite des Künstlers (mit nervigen Computersound): You sometimes have to be open.
»Der Herr der Ringe« mal anders: Wie sähe LOTR als moderne ›Kumpel auf Rundreise‹-Geschichte aus? Illustratorin Noelle Stevenson hat sich das für uns in ihrem ›A Girl And Her Demons‹-Blog die»The Broship of the Ring«. Laut gelacht habe ich über die Hippster-Hobbits (»Wie, Du weißt nicht was ein zweites Frühstück ist?!«).
Analyse: Nicht wirklich überraschend, dass Michael Bay in seinem neusten »Transformers«-Streifen Schnipsel aus seinem Film »The Island« recyled hat, aber dennoch erstaunlich, wie der Vergleich aussieht: »Transformers 3« scene from »The Island« von Jermain Odremán.
Superhelden-Humor: Die vier intelligenten Spinner der ›After Hours‹ von ›Cracked‹ streiten sich, Ob Batman schlecht für Gotham ist (engl.). Achtet auf den Asperger-Test mit den Zuckertütchen!
Zum Schluss ein Filmchen: Die Idee an sich ist nicht so prickelnd, ist aber gut umgesetzt. Auf zum wilden Springen durch verschiedene Populär-Genres mit der Plot Device (von ›Red Giant‹). Mein Favorit: Natürlich der S/W-Krimi mit kommentiernder Gedankenstimme aus dem Off.
Eintrag No. 727 — Nachdem es tatsächlich Leser gab, die auf meine vorsichtige Frage, ob ich Regalbrett für Regalbrett meine Bibliothek vorführen soll mit »Ja! Bitte!!« antworteten, eröffne ich den Rundgang mit dem obersten Brett des nord-östlichen Billys (einem 80-er).
Aus Platzgründen habe ich vor längerem gelesene Biographien ganz oben aufgereiht. — Größte Schätze sind hier sicherlich die deutsche Ausgabe der Philip K. Dick-Bio von Sutin und (Bildmitte das große Trumm) der Katalog der Ausstellung »Georg Christoph Lichtenberg. Wagnis der Aufklärung« der Mathildenhöhe Darmstadt / der Niedersächsischen Staats & Universitätsbibliothek Göttingen1992. — Größte ›Peinlichkeiten‹ … vielleicht MRRs »Mein Leben« (aber ich steh dazu, dass es ein unterhaltsames und berührendes Buch ist); und »Nostradamus« von Ernst R. Ernst (Heyne 1986), allerdings vertritt das die ziemlich plausible These, dass Nostradamus mit seinen rätselhaften Texten keineswegs die Zukunft vorhersagen, sondern vielmehr politische Geschehnisse verklausuliert kritisch kommentieren wollte.
Die erste Comic-Abteilung wird von franko-belgischen Erz-Klassikern wie Hergé (»Tim & Struppi«), Andre Franquin (»Spirou & Fantasio«, »Marsupilami« und »Gaston«), sowie »Valerian & Vernoique« von Mézières & Christin dominiert. Auch hat Andrea hier einige ihrer Gemmen ausgelagert, die ich gerne in meinem Zimmer beherberge (z.B. »Lanfeust von Troy«, »Der Wind in den Weiden« von Plessix und »China Rot« von Robin).
Dieser Abschnitt muss unbedingt gelesen werden, denn man erfährt durch denselben Nichts über das Gliedermännchen und ebenso wenig über das Land, in welchem das Feuer kein Feuer ist.
Schwadronaius konnte also seine Cigarre nicht anzünden, was für einen Raucher sehr unangenehm ist, wohl aber sah er das Gliedermännchen, das ein anderes Licht in das Transparent setzte, worauf es alsbald Tag ward.
»Das Gliedermännchen sieht sehr gescheit aus«, dachte unser Neugott, »ich werde mir Belehrung und Feuer von ihm erbitten.«
Der kleine Gliedermann machte einige Mal »Britt«, und dann einige Sprünge. Schwadronarius mit seinem Götterverstande begriff gleich, dass das heißen sollte: »Folge mir!«, und tat demgemäß.
Sie traten zuerst in einen großen Saal, der das Licht durch Blendrahmen erhielt. Aufgespannte Leinwand, Gypsabgüsse, Tabakspfeifen an der Wand, alte Waffen und Rüstungen ließen vermuten, dass hier ein Maler-Atelier sei. Wirklich gewahrte Schwadronarius auch drei Maler, die eifrig fortarbeiteten, ohne sich um die Anwesenheit eines Fremden zu kümmern.
Der Erste, nachlässig auf einem niedrigen Lehnsessel hingestreckt, rauchte und sah dabei nach der Decke, während sein rechter Fuß mit der Sicherheit eines Meisters auf der Leinwand hin und her fuhr. In wenigen Schritten vollendete er ein Gemälde von mehr als sechzig Figuren.
Neben diesem Fußkünstler malte der zweite Meister, von seinen Zeitgenossen Schwanzpinsel genannt, binnen wenigen Minuten eine Schlacht von zehn Fuß im Quadrat und gönnte sich kaum die Zeit sich umzudrehen, um neue Farbe mit dem Pinsel zu nehmen.
Der dritte Künstler, dem das Gliedermännchen besondere Aufmerksamkeit widmete, hatte nur eine Pfote, aber sie wog sechs Hänse auf; er hieß Pfotenfaust und war Meister im Portrait.
In einem anderen Atelier dicht daneben ritt ein Maler auf einem raphaelischen Steckenpferde und decalquirte {= Umpausen einer Zeichnung z.B. auf Lithographiesteine} Nichts als Beine und Ohren auf alten Bildern. Er war ebenfalls ein berühmter Meister, denn er schleppte einen langen Schweif von Schülern mit sich.
Schwadronarius sah zufällig durch ein Fenster des Ateliers, welches eine freie Aussicht auf eine Landwirtschaft gewährte, und wurde hier zwei Landschaftsmaler gewahr, die mit brennendem Eifer den Strahlen einer nicht minder brennenden Sonne ausgesetzt sich abmühten, Studien von Reisbeeten nach der Natur aufzunehmen.
Zu seiner nicht geringen Verwunderung erfuhr er, dass einer dieser beiden gewissenhaften Künstler drei volle Jahre damit zugebracht, eine Vogelscheuche in allen möglichen Beleuchtungen zu studieren.
Allen diesen so emsig — wie Ameisen, die von einem Gewitter bedroht werden — arbeitenden Malern lag daran, ihre Bilder zu dem für die Preisbewerbung unwiderruflich gestgesetzten Termine zu vollenden, denn sie sahen im Geiste schon die Gestalt ihres blinden und tauben daher unparteiischen Preisrichters vor sich.
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Eintrag No. 725 — Derweil nur die Links. Leider sehe ich mich nicht vor Freitag dazu kommen, auch etwas über die Lektüren und Filmsichtungen der vergangenen 14 Tage zu schreiben.
Nur soviel auf die Schnelle: »Blödmaschinen« von Georg Seeßlen und Marcus Metz war für mich die ganzen vielen 780 Seiten spannend und ertragreich. Absolute leseempfehlung meinerseits.
Und das neue Opus von Terrence Malick, »Tree of Life«, gefällt mir zwar nicht ganz so gut wie »Thin Red Line« und »The New World«, führt aber dennoch exzellent vor, wie toll, tief und kunstvoll Kino sein kann.
Hier die Rückblick-Links, teilweise auf Hau-Ruck-Art.
Nehmt das, ihr beschränkten Acolyten jeglichen Rassenreinheitswahns. Unsere Vorfahren haben nicht nur mit Neanderthalern geschnackselt (also sich vermischt wie Pferde mit Eseln), sondern das hat uns auch immunologisch fitt gemacht für die Ausbreitung über die Erde … berichtet dieser (engl.) Artikel von Michael Marshall auf der Website von ›New Scientist‹Breeding with Neanderthals helped humans go global. — Dabei entdeckt, dass die ›Royal Society‹ einen feinen Netzauftritt pflegt, mit Artikeln, Blog, Filmen und Pi Pa Po. Warum gibt es sowas nicht auf Deutsch von unseren edlen, altehrwürdigen Forschungs-Gesellschaften? (Oder hab ich’s bloß noch nicht entdeckt?).
Die ›TAZ‹ liefert, wozu öffentlich-rechtliche Medien wohl zu blöd oder zu behäbig sind: eine wunderschöne graphische Übersicht zu den (bekannten) Finanzspritzen für die Politik: Parteispenden Watch 2009 – AB 10.000 Euro.
Noch eine aufregende Flash-Aufbereitung von Zwölf Entwicklungen die alles verändern werden (engl.) hat ›Scientific American‹ zusammengestellt. Sehr schön gemacht und ein toller Rundgang zu Dingen wie Polkappen- & Gletscherschmelze, Kontakt mit Außerirdischen, Klonen von Menschen, nukleare Bedrohung, Asteroiden, Pandemien, Schaffung von Leben, Künstlicher Intelligenz, Supraleitern bei Zimmertemperatur, Höheren Dimensionen und Fusionsenergie.
(Deutschrachige) Phantastik-Links
Jubiläum: 25 Jahre ist es (echt schon…?; : !) her, dass Alan Moores & Dave Gibbons Meisterwerk »Watchmen« erschienen ist. Guter Grund für ein Sachbuch (»Under the Hood – Die Verweis-Struktur der Watchmen« von Hans-Joachim Backe) zu diesen lecker-schmecker semiotischen Spaghetti unter den Graphic Novels und eine Besprechung desselben für den ›Tagesspiegel‹ durch Lars von Tröne: Pop-Exegese: Forschungen in der Parallelwelt.
Für ›Omnivoracious‹ unterhält der eine Meister der zeitgenössischen Phantastik, der Amerikaner Jeff Vandermeer, sich mit dem anderen, dem Engländer China Miéville, über den neuesten Roman von letzteren: »Embassytown«.
Was dein Lieblings-»Alien«-Film über Dich verrät (engl.) — Meredith Woerner hat für ›io9‹ diesen Persönlichkeits-Bespiegelung ausbaldowert. Mich spricht demnach die kalte, dunkle Welt des Unbekannten an, denn mein Favorit ist immer noch der erste »Alien« von Ridley Scott (allein schon wegen der Pionierleistung).
Zuckerl
Verrückte Skulptur-Kunst von Tim Hawkinson stellt ›Indianpolis Museum of Modern Art‹ vor: irre Mischung aus Modellbau und Mathematik, dieses Möbiusband-Schiff.
TGWTG No 1: Stimme den Entscheidungen des ›Nostalgia Critic‹ in allen Punkten zu, wenn er bei seiner neusten Ausgabe von ›Alt vs. Neu‹ der Coen-Brüder-Fassung von »True Gritt« gegenüber der John Wayne-Fassung den Sieg einräumt: Old vs New: »True Grit«.
TGWTG Nr. 2: Wer Popkorn- und Genre-Knall-Bumm mag und dennoch einen (Anstands-)Rest Geschmack und Hirn nicht missen möchte, kann sich Bestätigungswonnen verschaffen bei Mathew ›Film Brains‹ Buck genüsslicher Zerlegung von Michael Bays »Transformer 2 – The Revenge of the Fallen« (zweites Video von oben ist der fast einstündige komplette Megacut).
Laaange und sehr kluge Besprechung mit reichlich Zeitgeschichts- und Kultur-Erklärung zu Thomas Pynchons »Inherent Vice« hat John Carvill für ›Bright Lights‹ geschrieben: The ›Bong‹ Goodbye (engl.).
Filmpalaver: was kommt raus, wenn sich zwei Regiesseure, deren Werk ich sehr schätze, ungezwungen unterhalten? Gebt Euch den Wahn mit Lars van Trier und Paul Thomas Anderson (engl.) auf ›Cigarettes & Red Vines‹.
Kurz vor Schluss ließ mir Andrea einen Link-Tipp zukommen. Vorsicht: Über-Putzigkeit voraus! Hier kommt der kleine Eichhörnchen-Nachwuchs im ›flickr‹-Blog.
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Eintrag No. 724 — Seit einigen Wochen (oder Monaten?) merke ich, dass ich immer weniger Zeit habe (u. a. deshalb diese Woche kein Rückblick … dafür gibts übermorgen eine Doppelnummer).
Einer der Gründe meiner knackigen Auslastung war, dass ich, wann immer ich die Konzentration dafür zusammenkratzen konnte, an meinem ersten Übersetzungsprojekt für einen richtigen, ja sogar sehr feinen Verlag gebosselt habe: »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« von Ted Chiang. Ein wunderbarer Band mit fünf beeindruckend guten SF-Geschichten (›SF‹ eher im Sinne von ›Speculative Fiction‹).
Näheres zum im Herbst 2011 erscheinenden Buch wird nachgepflegt, sobald weitere Infos auf der Golkonda-Website geboten werden. Hier schon mal das Autoren-Portrait für die hintere Broschur-Klappe:
Eintrag No. 723 — Heute mal läppisches, unbemerkenswertes, kleinteiliges aus dem Leben eines Büchernarren, genauer: eines Lesers, der zwischen deutschen und englischen Ausgaben hin- & herspringen kann, wie es ihm passt.
Zum Verständnis meiner allgemeinen Regal-Situation: In meinem Zimmer stehen vier Achziger-, zwei Sechziger-, und zwei Vierziger(Eck)-Billies. Grob gesagt verfüge ich also über ca. 40 einfache Meter Regal, und ca. 70 Meter, wenn man die zweite Reihe berücksichtigt. Es gibt nur wenige Autoren, denen ich eigenen Platz für all ihre Bücher einräume. Aber China Miéville ist einer davon und ich möchte aus reiner Experimentierlust hier mal die drei verschiedenen Ausgaben seiner Werke, die ich habe, mitieinander vergleichen.
Hier die alten englischen Ausgaben:
Bis auf »King Rat« (& »Between Equal Rights«) handelt es sich um die UK-Ausgaben von Panmacmillan. Man kann hoffentlich erkennen, dass es im Lauf der Jahre insgesamt drei große Design-Wandlungen gab. Die ersten beiden Bas-Lag-Romane (»Perdido Street Station« und »The Scar«) hatten feine Ed Miller-Cover und eine etwas ›punkige‹ San-serif-Schrift. Von »Iron Council« bis »Kraken« verwendete man dann einen (meistens) schlanken Serif-Font für den Buchrücken, die Cover selbst waren eher sowas wie abstraktere Understatements (bis auf »Kraken«, das rockt nämlich richtig). Mit dem neuesten Roman, »Embassytown«, kehrt man wieder zu einem schlichten Sans-Serif-Font für den Titel und einer Art Punk-Logo für den Autoren-Namen zurück.
Hier nun zum Vergleich die deutschen Ausgaben:
Vor einigen Jahren habe ich mich mal ermahnt, mich mit Rumgenöle und Fizzelkritteln zurückzuhalten, aber jetzt muss ich freilich schon drei große Dummheiten (oder merklich nervige Wankelmütigkeiten) der deutschen Buchrücken ausdeuten:
1) Nach fünf Bänden ließ man es sein, den Buchrücken selbst mit Motiv zu versehen. — 2) Oftmaliger Schriftwechsel: Die ersten drei in Sans-Serif; dann zwei Bände in Serif; dann wieder zwei Bände in Sans-Serif; dann wieder einer in Serif; zuletzt einer mit Serif für den Autoren und Sans-Serif für den Titel. — 3) Dreifach verschiedene Schriftausrichtung: die ersten fünf Bände lassen sich horizontal zu lesen; die nächsten Bände lassen sich von rechts lesen; und dann, plötzlich, wurde bei »Die Stadt & Die Stadt« die Leserichtung geändert. Meiner Meinung nach eines der ganz großen ›Tut man nicht!‹ der Gestaltung.
Da ich meine deutschen Ausgaben sowieso nur in die zweite Reihe stelle, und meine alten englischen teilweise wegen Mehrfachlesens auseinander fallen und mir die Uneinheitlichkeit der Formate missfällt, habe ich mir in den letzten Wochen pö a pö die neuen Panmacmillan-Ausgaben von Chinas Büchern besorgt:
So lieben es meine toitschen Gänä. Orrrtentlich. Oinhoitlich … und hübsch bundisch! — Über die mir sehr gut gefallenden neuen Cover habe ich ja im Wochenrückblick No. 43 berichtet.
Sandsteinbildsäulen, Bäume, die Sande nicht gedeihen, Kot, Staub.
Seidene Kleider, Sammethüte, seltsame Frisuren und eben solche Fußbekleidungen. Ein Mann, der sich stolz von einem Hunde an der Leine fortziehen lässt, auf dessen Halsband man die Inschrift liest: »Ich gehöre dem Grafen Alcibiades von Neu-Foundland.«
Dandies auf den Fußsteigen, vorrüberrollende Wagen, einige niedrig wie Lehnstühle auf vier Rädern, andere so hoch, dass der Kutscher auf dem Bocke dem Wetterhahn auf dem Turm einer Dorfkirche gleicht.
Auf jeden Fall befinde ich mich in einer Hauptstadt. Aber in welcher? That is the question.
Ich mag noch so scharfe Blicke durch die Kutschenfenster werfen, ich sehe nichts als Perücken oder Hüte auf Holzköpfen und in einigen Wagen Gliederpuppen, die mit dem größten Luxus und der größten Sorgfalt angeputzt sind.
Es scheint hier zu Lande Mode zu sein, sich auf den öffentlichen Promenaden durch Stellvertreter von Holz, Gyps oder Wachs repräsentieren zu lassen. Man zeigt sich elegant im Bilde: Kleider, Kopfputz, Shawls, Diamanten, Alles was die Schönheit, den Reichtum, den Luxus und den Geschmack einer Person zur Erscheinung bringt, ist vorhanden, nur sie selbst ist abwesend. Es gibt kein geistreicheres Mittel, sich öffentlich ohne alle Mühe zu zeigen. — Wozu auch die Person, die ist überflüssig. — Man begibt sich ja nur auf die Promenade um neue Moden zu sehen. — An die Feierlichkeiten der Mode denkend rief der Prophet: »Gliederpuppen! Alles ist Gliederpuppen!«
Das gewahre ich auf der Chaussee! Lustwandelnde Halbstiefelchen, Röcke, die die Nase hoch tragen und Mantillen den Arm reichen, Stiefel, die den Hut keck auf das linke Ohr setzten, kurz eine Fortsetzung desselben Systems. Die Schneider, Hutmacher, Schuster, Modehändler haben das Mittel gefunden, die Menschen wegzulassen, die ihnen als Aushängeschilder dienten, und das Aushängeschild hat sich vereinfacht und ist Mensch geworden.
Endlich finde ich einen Menschen unter so vielen Gliederpuppen, ein Unbekannter näherte sich mir, eine Reitpeitsche in der Hand, und zwingt mich, eine vorrüberreitende Amazone zu bewundern.
»Es ist die Gräfin von Haferlust«, erzählt er mir, »die erste Reiterin ihrer Zeit; sie hat eine Maschine mit Doppeldruck erfunden um die Jokeis mager zu machen. Sie können an dem ihrigen des Resultat ihres Systems sehn. Das Pferd, das sie reitet, ist der Blitz vom Donner und der Aurora, das ihres JokeisDiana, von Actaeon und Iphigenie; edlere Rosse gibt es nirgends, nirgends echteres und graziöseres Vollblut.«
Ich muss mich in einer außerordentlich gebildeten Hauptstadt befinden; selbst die Pferde zeigen ihre Ahnen auf! — Aber genug davon; verlassen wir den zudringlichen Cicerone und gehen wir zu Tische.
Das Beefsteak, das ich mir hatte geben lassen, war weiter Nichts als eine sinnige Anwendung des Caoutschuk für die Ernährung des Menschengeschlechts. Ich bin nicht ganz außer Sorge über die Folgen meines Mittagsmals. — Indessen, was ist zu tun, lesen wir die Zeitungen; die Politik befördert die Verdauung.
»Kellner, die Zeitung!«
Der Kellner bringt mir das Modejournal. —
»Nicht doch, ich will ein politisches Blatt.«
Der Wirt selbst belehrte mich, dass das Modejournal die einzige politische Zeitung sei, welche hier erscheint und von der conservativen Partei herausgegeben wird; zwar haben die Liberalen auch die Concession erhalten, ein Blatt zu gründen, diese Concession ward ihnen aber bereits nach der Ausgabe des Prospectus wieder entzogen, da derselbe eine Stelle, in welcher die Censur gelobt wurde, enthielt, denn das Princip der Regierung ist, das Volk müsste stets tun, als wisse es gar Nichts von der Existenz der übrigens in diesem Lande sehr strengen Censur. Darauf machte er mich mit der Constitution des Staates bekannt, in welchem ich die Ehre habe mich zu befinden. Für die größten Dichter gelten hier die Verfasser der besten Rebus, die Referenten über die Moden werden am meisten gelesen, und sämmtliche Staatsmänner müssen, ehe sie in die höheren Dikasterien treten, als Practicanten bei einem Schneider gearbeitet haben. Der Landtag zerfällt in zwei Kammern, welche sich versammeln, um über die vom Ministerium vorgeschlagenen neuen Moden und Kleiderschnitte zu beraten. In diesem Augenblicke hatte die Opposition einigermaßen den Sieg davongetragen in einer Debatte über die Camails-Paletots {= der Mantel, den der Herr im letzten Bild dieses Kapitels trägt}, deren Annahme die ministerielle Seite heftig bekämpfte. Die Minister waren nahe daran ihre Entlassung einzureichen; wenigstens gab das der leitende Artikel im »Modejournal« deutlich zu verstehen. Er lautete folgendermaßen:
Mühlbachflorenz, am u. f. w. Die Opposition hat einen Sieg davongetragen, dessen Folgen dem ganzen Staate sehr gefährlich zu werden drohen. Schon bei der Motion hinsichtlich der Palatinen {= Stellvertreter des Königs} mit Hermelinchenschwänzchen für die Referendarien liess die radicale Partei ihre Absichten durchschimmern. Die Kleiderordnung soll umgestossen und die Vermischung der Trachten proclamiert werden. Ein so gefährliches System kann unmöglich Geltung erhalten; die Gutgesinnten werden sich dagegen verbinden und wir fordern alle wohlmeinenden Bürger auf, unserer Ansicht beizutreten.
Das Ministerium ist entschlossen die Kammern aufzulösen und neue Wahlen vornehmen zu lassen. »Festigkeit, Mut, Einigkeit!«, das sei unser Wahlspruch; die Nation mus den Camail-Paletot verwerfen. Die Geschlechter dürfen unmöglich die sie unterscheidende und characterisierende Tracht aufgeben; schreckliche Verwirrung würde die Folge sein, aber nimmermehr soll die Hydra der Anarchie ihren tausendköpfigen, scheußlichen Hals zu erheben wagen.
Wir benutzen diese Gelegenheit unseren Lesern mitzuteilen, dass die gestreiften Unaussprechlichen noch immer gern gesehen werden und dass der Erfinder der Geheimratstinktur, um das Ausfallen der Haare und Zähne zu verhüten, ein Patent und die Stieglitzmedaille für Mode und Schönheit, mit der Erlaubnis zum Tragen am graugelben Bande, erhalten hat.
Kaum habe ich diesen Artikel zu mir genommen, so bringt mir der Kellner eine noch feuchte Flugschrift der Oppositionspartei, getitelt: »Über die bürgerliche Kleiderfreiheit«, mit dem Motto, »Jeder ist sein eigener Schneider!«, in der ich nachstehenden Passus finde:
Die Nation wird bei ihrem feinem Geschmack schon wissen, auf wessen Seite sie tritt, wenn die Regierung wirklich so unüberlegt handelt, die Kammern auflösen zu wollen. Unsere Frauen lieben das Vaterland und werden, wir zweifeln nicht daran, mit patriotischer Gesinnung die Männertracht anlegen; die Edelsten des schönen Geschlechtes beginnen schon mit Meerschaumpfeifen und Ischibouts {= Chibouque: türkische Tabakspfeife mit langem Rohr} an öffentlichen Orten zu erscheinen. — Kann es ein schöneres Attribut für sie geben als den feinen, weißen Meerschaum, dem Venus selbst entstieg? Eben so wird der Camail-Paletot den Frack verdrängen und wir haben einen großen Schritt weiter getan, unserem erhabenen Ziele entgegen: der Gleichheit der Geschlechter, die die einzige gesunde Basis aller Politik ist.
Wir ergreifen eifrig die Gelegenheit, die Nation darauf aufmerksam zu machen, dass ein echter Vaterlandsfreund mehr gestreifte Unaussprechliche {= Umschreibung für Männer-Dessous, enganliegende Strümpfe} trägt, und warnen sie zugleich vor der Geheimratstinktur, die gerade befördert, was ihr talentloser Erfinder zu verhindern prahlerisch sich anmaßte.
»Glücklicher Puff!«, rief ich, als ich auch dies gelesen hatte, »du nährst dich mit Caoutschuk statt mit Beefsteak und wrist als Augenzeuge einer Staatsumwälzung beiwohnen!«
(Fortsetzung nächstens)
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