molochronik

Sid Jacobson und Ernie Colón: »The 9/11 Report« — Das Comic

Eintrag No. 382 — Verwirrung erstmal. Zuviel Ungeheuerliches ist auf einmal geschehen. Wie der Fuß eines Riesen stampfte das ›Schicksal‹ einmal in den USAmeisenhaufen. Wie immer, wenn z.B. Präsidenten erschossen wurden, Schiffe sanken, Atomkraftwerke hochgingen, Raumfähren explodierten, Sekten in U-Bahnen die Apokalypse einläuten wollten oder Einzelgänger im Amokrausch einen Haufen Mitmenschen killten, sicher ist: Jedes spektakuläre Unglück zieht investigative Anstrengungen nach sich. Die Betroffenen und Hinterbliebenen möchten verzeifelt verstehen: »Wie es dazu/soweit kommen konnte?«.

Wie wohl so manch anderer auch, habe ich noch einen Stapel Berichte, kopierte Zeitungsartikel und Sonderausgaben verschiedener Magazine über IX.XI angesammelt. Da kommt mir nun dieses Sachcomic, das auf dem gleichnamigen, sehr dicken Report der 9/11-Untersuchungskommission beruht, gerade recht.

Immerhin führt gleich der Beginn eindringlich vor, welche großartigen Darstellungsmöglichkeiten die graphische Erzählform bietet. Statt die Unglückschronologie der vier entführten Flugzeuge nacheinander aufzubereiten, stellt das Comic auf den etwa ersten 30 Seiten in vier waagrechten Schichten die zeitliche Folge der Ereignisse gleichzeitig dar. Der Umstand, daß das letzte der vier Flugzeuge noch gar nicht gestartet war, als der erste Flieger in den Nordturm des World Trade Centers einschlug, wirkt auf diese Weise besonders verstörend.

An besagten September-Dienstag vor sechs Jahren kramte ich doch mal wieder (nach einigen Monaten der Vernachlässigung) damalige Kladde heraus und schrieb:

11. September 2001: Anschlag auf USA. Nicht überrascht. Habe ein solches mit dem zunehmenden Chaos seit Regierungsantritt von Bush jr. mehr oder minder erwartet. Inzwischen, nach 6 St. Infosucking breche ich (emotional & konzentrationsmäßig) a weng zusammen. Dies ist für die Meisten wohl der Beginn eines neuen Zeitalters. Die ›Moderne‹ ist vorbei, wobei die Chance ist, daß Amerika (und der Westen) zum Erwachsensein und Beenden ihrer Heuchelei ›geprügelt‹ werden. In SF-Welten wird manchmal etwas vorgestellt, daß im frühen 21. Jhd. anhebt: The New Dark Ages.

Auch heute noch empfinde ich die IX.XI.-Anschläg auf World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus größtenteils als etwas Beruhigendes, Klärendes. Die Welt hat sich mal unumwunden als das entblößt, wofür ich sie (kleiner Katasthophikus der ich bin) schon lange halte; als chaotisches Jammer- und Jubeltal, als Arena der Rangelein um Verwöhnungsresourcen aller Parteien die auf dicke Hose machen. Jedes Kollektiv will halt erstmal für sich und seine Leute ein schickes Paradies abgrenzen. Zugegeben: seit den Anschlägen wurde deutlich, wie sehr ›dem Westen‹ — sprich: den Ex-Kolonialmächten der Globalierungstäter — das von ihren Aufbruchsdynamiken verursachte Ungleichgewicht und Elend der Globalisierungsopfer Wurscht war.

New York ist also entsetzt, die westliche Welt fällt auch allen Wolken vor geschockter Verdutztheit; im Orient aber werfen viele begeistert und freudig die Arme in die Höhe und heben zu gern den Aktions- und Konzeptkünstler Bin Laden als Robin Hood unserer Tag auf den Schild. »Kampf der Kulturen« nennen das dann jene, die beim Interpretieren von Politik und Geschichte über (zivilisierte) Cowboys und (bestialische) Indianer nicht hinauskommen. Groß ist die Verführung, den Hexenkessel der menschlichen Konflikte auf das Niveau eines Schachspiels zwischen zwei Parteien zu versimpeln.

Kein anderes Land der westlichen Moderne versteht es so glänzend wie die USA, seine Wahloligarchie (vulgo: Demokratie) zugleich sakral und pragmatisch zu inszenieren. Das Sakrale liefert dabei den Drive und die Aura für das mediale Auftreten, als erwählte Nation, als Heim der Mutigen, als Gottes ureigenes Land. Dass dieses gelobte Land dabei zutiefst durch die Offenbahrungswahrheiten fundamentalistischer Evangelikaler und die Chauvenismen z.B. der WASP-Minderheit pervertiert wurde, wird mittlerweile auch von den US-Amerikanern selbst kritisch verhandelt. Da kamen Topf und passender Deckel zusammen, als selbsternennte Heilige Krieger im Namen eines anderen montheistischen Obermännchens ein buchstäbliches Mordsecho als Erwiderung auf diese Machtarroganz verlauten ließen.

Mittlerweile sprechen ja die US-Amerikaner selbst über die auffälligen Ungerechtigkeiten ihres mehr oder minder unverhüllten Feudalismus, der krassen asymmetrischen Macht- und Wohlstandshierarchie, die die ganze westliche Welt mehr oder weniger prägt (und ja: auch ich halte diese westliche Schieflage noch immer für ›besser‹, als die traditionellen, vormodernen Stammesformate der Zweit- und Drittwelt-Gesellschaften).

Von all dem ist in der Comic-Adaption nicht ausdrücklich die Rede, bildet aber für mich den Hintergrund, vor dem die Anstrengung des Verstehens sich lohnend lesen lassen. Zu komplex und undurchschaubar ist das ganze Geflecht aus Politik und Medialität.

Was das Comic aber schön herausgarbeitet, ist die seltsame Untätigkeit und ›Selbst im Weg Steherei‹ der Geheimdienste und Sicherheitsinstitutionen vor und während der Anschläge. Dass sich in den radikalisierten Kreisen des mittleren Ostens etwas zusammenbraut zeichnete sich lange vor IX.XI ab, wie der Kommissionsbericht rügt. Man hätte schon zu Clintons Zeit etwas unternehmen können. Was nicht im Comic steht abr für mich ebenfals zum wichtigen Hintergrund gehört, ist die peinliche Tatsache, daß die amerikanische-westliche Öffentlichkeit u.a. mit hysterischen Voyeurismus lieber der Ausbreitung der intimen Fehltritte ihres Präsis Clinton Aufmerksamkeit schenkte; auch das Pahö um den Hickhack der gefinkelte Wahlen und des umstrittenen Sieges der Bush jr.-Regierung trug nicht dazu bei, daß Amerika und der Westen aus ihrer notorischen Baunabelpuhlerei bei Zeiten heraufand. So schlug dann scheinbar völlig aus dem Nichts kommend überraschend die Große Geschichte vier Mal auf die größte Bushtrommel der Welt.

Ich will die Comic-Adaption nicht als Poragandawerk abtun, auch wenn ich ab und an genau diesen Eindruck bei der Lekütre hatte. Jedoch: Die ehrliche Anstrengung der Kommission, die eigenen Versäumnisse zu ergründen erscheint mir zutiefst aufrichtig. Mir, als ›kritischen Europäer‹, ist aber dennoch mulmig. Zwar finden sich viele der sprechensten Ikonographien die seit 9/11 in den Bildermythos des Informationszeitalters eingingen im Comic wieder. Es fehlt aber z.B. das dumme Geschau von Bush jr. bei seinem Besuch einer Grundschule, als ihm die Meldung vom Anschlag in New York zugeflüstert wurde; es fehlen die schrillen Töne von Bush jr., als er sich verbal auf die Brust trommelte:

»We will hunt them down and smoke them out« (»Wir werden sie {die Terroristen und ihre Hinterleute} zur Strecke bringen und ausräuchern«).

Später im Comic, bei den zwei Seiten über den Vergeltungkrieg der Amerikaner gegen das Talibanregime in Afghanistan lese ich zwar, daß diese Aktion von »Symphatiebekundungen für die USA« begleitet wurden. Kein Wort aber über jubelnde Sympathisanten der Anschläge, kein Wort über die politischen Einsprüche der westlichen Nationen und der bis heute anhaltenden weltpolitischen Verstimmungen (»Old Europe«), die der Krieg gegen den Terrormismus zeitigte.

Gerechterweise aber kann ich die Adaption loben, wenn es darum geht, wie nüchtern und dennoch ergreifend die Anschläge als schockierendes Unglück darstellt werden. So sehr man die US-amerikanische Hegemonialpolitik, dieses breitbeinige Gebahren als Möchtegern-Rom verachtet, die Erschütterung und Verunsicherung der amerikanischen Seele welche die Terroranschläge bewirkten, kommt glaubwürdig rüber. Sind halt auch nur Menschen, die Amis.

Das beginnt schon beim Umschlag: ganz unten ein Panoramabild der Manhattenskyline mit WTC und einem nahenden Flieger; darüber das monströse Räucherwerk der brennenden Türme; und darüber ein Feuerwehrmann, der aus Fassungslosigkeit sein Gesicht mit der Hand bedeckt.

Die unheimlichste Passage aber ist für mich als Maximalphantast der Ausklang des Buches, wenn die 9/11-Kommission Überlegungen anstellt, welche Lehre man aus dem Unglück ziehen kann, was man in Zukunft besser machen kann. Neunzehn Terroristen waren in der Lage, der letzten Supermacht deshalb gehörig ins Gemüth treten, weil die entsprechenden Organe der Supermacht zu wenig Phantasie zeigten. Es ist mehr als bittere Ironie, daß die Wohlstandszonen bis heute von paranoiden Zuckungen und Verschörungshysterien gelähmt werden.

(Das markanteste Beispiel, daß Fabulatoren der Unterhaltungsindustrie diesbezüglich den strategischen Analysten und Planern aus Politik und Armee ›überlegen‹ sind: ein halbes vor dem 11. September bot der Pilotfilm des »Akte X«-Ablegers »The Lone Gunmen« genau den Terroranschlag-Plot, nur mit der Wendung, daß es finstere Klüngler des militärisch-industriellen Komplexes der USA sind, die mittels Fernsteuerung ein Flugzeuganschlag auf das WTC durchführen wollen, um sich ein sattes Budget zu sichern.)

Im 9/11-Report und seiner Comicumsetzung heißt es entsprechend mahnend:

»Es muß eine Möglichkeit gefunden werden, wie Fantasie auch von Amts wegen routinemäßig eingesetzt werden kann.«

Man kann das von Donald Rummsfeld ins Leben gerufene ›Des-Informationskader‹ als eine Anstrengung dieser Routinisierung von Phantasie im War on Terror, im Rennen um das 21. Jahrhundert, im Dominanzgerangel des Informationszeitalters mit seinem Kampf um die besten Köpfe usw. sehen. Und dies ist vielleicht der unheimlichste Eindruck, den dieses spannend zu lesende Sach-Comic bei mir hinterlassen hat.

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Link-Service: Hier zu einer kleinen Sammlung Quicktime-Filmchens bei Bookwarp mit Selbstauskunft der Comicmacher Jacobson und Colón über ihre Adaption.

Neil Gaiman (& Co): »Marvel 1602«

Eintrag No. 320 — Als Marvel-Banause stehe ich ein bischen dumm, wie der redensartliche Ochs vorm Berg, vor »Marvel 1602« des Autors Neil Gaiman und der Zeichner Kubert & Isanove. Die allermeisten (bestimmt) geistreichen Dinge die, wie ich annehme, Gaiman & Co in dieses Comic eingewoben haben, gehen mir durch die Lappen. Ich merk, daß mir ein Handicap anhaftet, denn meine bisherigen Einblicke in die Welt(en) der verschiedenen Marvel-Helden & Heldinnen & Heldencliquen, reichen eben kaum über den Einblickshorizont hinaus, den die entsprechenden prallen (»Hulk«, »X-Men 1 & 2«, »Spiderman 1& 2«), labbeligen (»Daredevil«, »X-Men 3«) oder kurios-›lächerlichen‹ (»Fantastic Four«, »Elektra«) Spezialeffekte-Vehikel der diversen Marvel-Franchisefilme mir bisher ermöglichten. Ich habe kaum Kenntnis von den ganz alten, den nicht ganz so alten, den jüngeren und aktuellen legendären, umstrittenen oder kultverehrten kürzeren & längeren Erzählsträngen und Saga-Abschnitten des Marvel-Universums (nur vom Hörensagen weiß ich z.B. vom vielseits gelobten »Dark Phœnix«-Epos, das ja im 3. »X-Men«-Film verwurstet wurde). — Alle sich auf Marvel-tümliches beziehenden Anspielungen und Verweise (und davon hat's in diesem Band, wie ich vermute, eine wuselig-wimmelnde Menge) bleiben also, solange ich nicht Gelegenheit habe ein umfassendes Marvel-Comicstudium zu absolvieren, derweil für mich dunkel. Deshalb muß ich wohl ›gestehen‹, daß ich den Eindruck habe, als ob mein großer Mythenmixer-Held Gaiman es sich diesmal ein wenig zu einfach gemacht hat. So richtig spannende, oder lustige oder zünftige (usw) Stimmung will bei mir nicht aufkommen. Obwohl ich sonst Gaimans Sachen schnell mal toll finde, bin ich unterm Strich erstaunt, wie sehr mich die Story, der inhaltliche Gehalt diesmal kalt läßt. Naja: wenn der Marvel-Fan seit Kindeheitstagen Gaiman sich mit seinem bewunderten Gegenstand vergnügt, kann's eben sein, daß ein Marvel-Nichtfan (sondern eben ›nur‹ Ätschn-Phantastik-Leser) wie ich vorm Gatter bleibt.

Aber jetzt ist's genug über das Gezwacke und Gezwicke meiner persönlichen Lese-Position; worum geht's denn in dem Teil?

Sozusagen von Außen nach Innen aufgezwiebelt, finde ich wiedermal verschiedene Genre miteinander vermengt. Marvel: das ist einer der großen, alteingesessenen US-Comicverlagshäuser. Selbst wenn man Comics (oder US-Comics, oder US-Superheldencomics) sonst scheut, sollte zu den Allgemeingrundkenntnissen eines jeden literaturinteressierten Phantasten gehören, daß es in Amiland diese beiden Titanic-Pötte des Superhelden-Genres gibt: DC (Superman, Batman, Justice League, Watchmen) und Marvel gibt.

»Marvel 1602« ist zuersteinmal ein Marvel-Superheldencomic; genauer: ein abgeschlossener Sonderband, der in 8 Einzelheftchen (= Kapiteln) 2003/2004 erschien, und dessen sogenanntes ›Tradepaperback‹ (= Sammelband) ich letzten Monat günstig für 16 Euronen erstanden hab. — Wie, rümpfen Sie etwa die Nase über's Superhelden-Genre?!? Also, da will aber mal ganz bildungshuberisch an Siegfried, Münchhausen, Dr. Mabuse (auch wenn der ein Anti-Held ist), Nick Knatterton, und da ich ein Schelm (und Spider Jerusalem-Fan bin) auch an Schweijk und Baby Schimmerlos erinnern! Womit ich hoffentlich, wenn auch nur fragmentarisch, klar genug andeute, daß die deutschsprachige Literatur und Kultur durchaus über manigliche superheldentaugliche Traditionen, Figuren und Stoffe verfügt. Schande und Schade, daß hierzuland so gar nix zu diesem Genre beigetragen wird. Wenn Sie also noch niemals nie ein Superheldencomic in die Hand genommen haben, ist »Marvel 1602« ein ganz gutes aktuelles Anschauungsobjekt, grad weil's so typisch und zugleich nicht-typisch ist.

Wie schon der Titel zudem verkündet, ist die Story im Jahre 1602 angesiedelt, also haben wir es mit einem Historienstoff zu tun, und weil hier durch ein großes Durcheinander des Raum-Zeit-Multiversums das Marvel-Superhelden-Univerum sich in die historische Mantel- & Degen-Epoche des Spätelisabethanischen Englands ergießt, handelt es sich also zweitens um ein Werk des Alternativwelt-Genres.

Drittens, viertens und so weiter ergibt dann grob gesagt ein munterer Abenteuer-Monomythusreigen den weiteren Inhalt des Comics: In der einen Ecke die Helden, in der anderen die Bösen. Seit dem saftigen »Elizabeth«-Biopic mit Cate Blanchet (dessen Fortsetzung »The Golden Age« ansteht) ist ja klar: The Virgin Queen, auch wenn sie hier schon eine sehr alte Königin ist, und ihre Leut sind die Guten. Berühmt-berüchtigt ist ja Elisabeths I. Geheimdienst gewesen, und so bekomme ich entsprechend das Agenten- und Spione-Genre geboten (Bond & Bourne), sogar in der Ausformung des Staats- & Reichskonflikt-Abenteuers (Tom Clancy & Co.). Der grimmige Soldaten-Stratege, eben Oberagent Sir Nicholas Fury (Hulk?) ist der Chef dieses Geheimdienstes, und er soll auf königliche Order zusammen mit dem Universalgelehrten (Alchemisten, Zauberer) Stephen Strange (Doctor Srange?) herausbekommen, was all die beunruhigend wilden Wetter- und Naturphänomene verursacht, die seit einiger Zeit immer schlimmer werdend auf der ganzen Welt für zunehmende Verstörung sorgen (Also Teilgenre: Weltuntergangs-Szenario bzw. Gloablisierungsreflektion).

Im Schatten ihrer finsteren Burgen bosseln die Bösen derweil an ihren üblichen Welteroberungs-Unternehmen. Da ist einmal der fanatische Große Inquisitor (Magneto), der in Spanien Hexenbrut verbrennt. Mit ›Hexenbrut‹ sind die z.B. aus X-Men bekannten ›Mutanten‹ gemeint. Superhelden funktionieren ja meistens so: Da ist ein normaler Mensch (irgendwer, mit dem oder der sich eine bestimmte Zielgruppe gut idendifizieren kann, deshalb eben auch meist mit gewissen ›menschelnden Verliehrereigenschaften‹ und Achillesfersen ausgestattet), der durch einen schicksalsträchtigen Zwischenfall (Freakstrahlung, Experiment, Unfall) oder eben sogar schlicht evolutionären Mutations-Quantensprung, übermenschliche Fähigkeiten erlangt hat. Dabei kann einiges variiert und mit metaphorischer Spannung aufgeladen werden: sind die Superkräfte dauerhaft zuhanden, oder ›schaltet‹ der Held zwischen einem Normalo- und einem Übermenschen-Modus hin und her (siehe Jeckyll & Hyde)? Und wenn ge-switcht wird, welche Umstände, Emotionen, Reize sorgen für einen kontrollierten bzw. unkonrollierten Wechsel?

Die eigentliche Schirmherrschaft über die gute Hexenbrut hat natürlich Prof. X inne, der Obermentor aller gutgesinnten Mutanten, die keine Pest für die Menschheit sein, sondern ihre Hexenbrutkräfte halt für’s ›Gute Wahre Schöne‹ einsetzten wollen. ›Master Carolus Javier’s Select College for the Sons- of Gentlefolk‹ heißt sein Mutantenstadel allerdings in der Renaissance. Zum ersten Mal bekomme ich den feinen Mottospruch von Xaviers Schule mit:

Omnia mutantur, nos est mutamur in illis.
Die Dinge ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.

Es sind solche klaren, erhebenen Meme, weshalb ich das Superheldengenre für im Grunde ziemlich wertvoll halte. Zu den großen echten Mutationen, die wir alle durchmachen, gehört nun mal das Älterwerden, der Pupertäts-Übergangsritus vom Kind zum Erwachsenen. Ich denke, daß wer immer auch aus dem Tritt kommt durch erblühende Körperteile, sprießende Härchen und Hormentsunamis, kann sich spielerisch mit Fabelmenschen trösten. Das ist dann der wertvollste und schönste Aspekt der Superhelden: ihre einfachen aber kräftigen Maximen und Parabeln, über solche Dinge wie Verantwortung und Hoffnung.

Noch ein paar Einblicke in den Inhalt, damits nicht heißt, ich fasel hier nur deviant am Thema vorbei. — Ein bischen gegähnt hab ich, als wieder mal die Untergrund-Tempelritter einen Gegenstand von großer Macht aus Jerusalem nach Europa schmuggeln. Ein gutgelaunter blinder Barde (Daredevil) soll sich darum kümmern, daß diese goldene Kugel (siehe Platons Sonnengleichnis) nicht in falsche Hände gerät. — Aus der neuen Welt komm derweil Virigina Dare, die erste dort geborene Untertatin der Königin, zusammen mit ihrem Indianerbeschützer nach England. Virginia will um Hilfe für die Kolonie bitten; außerdem hat sie ein kleines Verwandlungsproblem. — Und es gibt fliegende Segelschiffe; Beobachter des Universums die sich verrenken, um nicht zu direkt in die Geschehnisse einzugreifen; in der Luft schwebende Mœbiusbänder die einen Raum-Zeit-Riss markieren; und vier ganz besonders ›fantastic‹ Helden, die aber erstmal einem Felsgefängnis entkommen müssen.

»Marvel 1602« würde ich am ehesten mit den mir bekannten »League of Extraodinary Gentleman« vergleichen, auch wenn »LGX« — die Comics! — um einiges wilder, bitterer, brutaler, sprich: was für ab 16 sind, wohingegen Gaimans Superhelden/Alternativhistorie definitiv ab 12 (wenn nicht sogar ab 6) ist. Damit will ich nicht sagen, daß »Marvel 1602« lasch und lahm ist. — Kinderkram kann sogar ziemlich ›hart‹ sein. Ich finde z.B. das die beiden »Schweinchen Babe«-Filme (nebenbei: ex-zel-len-te Phantastik) mit zu den härtesten Filmen der letzten 20 Jahren gehören (vor allem Teil 2 mit dem ›Hitlerhund‹; sowas wie »Rambo« oder jüngst »Poseidon« sind im Vergleich dazu harmlose Märchen), und die »Babe«-Filme haben, soweit ich weiß, gar keine Altersbeschränkung. (Bildungsbürgerappell: — Denkt darüber mal nach!)

Bleibt: das Comic ist zum Niederknien schön; die Zusamenarbeit von Andy Kubert (Bleistift) & R. Isanove (digitale Kolorierung) haut mich schlicht vom Hocker: der kunsthandwerkliche ›Vorsprung‹ der (grob vereinfacht gesagt:) Amis verblüfft mich immer wieder. — Aber besonders zum Fingerschlecken find ich die Einzelheft/Kapitelcovers von Scott McKowen, einem Kerl, der sonst eigentlich für z.B. Theaterplakate in New York bekannt ist. Für mich ist er der Star dieses Comics. Genial, dieses Plakat Romeo & Julia oder diese Kinderbuchgestaltungen (cooler Holmes, coole Alice!, und sogar eine gutgelaunte Heidi in den Alpen!!!).

Kleiner Gang durchs Comic:

  • 2 Seiten vorwortliche Einleitung von Kritiker und Comic-Akademiker Peter Sanderson (lehr »Comics als Literatur« and einer Uni in New York City);
  • 210 Seiten Comic in 8 Kapiteln (inkl. der Einzelheft-Covers);
  • 2 Seiten Nachwort von Master Gaiman (u.a. über das Vergnügen, an einem schönen Junitag Comics auf einem Boot in der Mitte eines Park-Sees zu lesen);
  • 14 Seiten mit dem Originalmanuspript von Gaiman von Heft/Kapitel No. 1;
  • 12 Seiten mit s/w-Bleistiftskizzen von Kubert;
  • 3 Seiten Erläuterungen von Master McKowen über die Covergestaltung;
  • 1 Seite farbiger Promo-Trailer mit teasernden Dramatis Personae (zumindest der Figuren, deren Auftauchen im Comic nicht als mittleres oder höheres Pa-Hö! und Ah-Ha! inszeniert wird).

Mervyn Peake und seine Titus-Bücher, auch bekannt als »Gormenghast«

Eintrag No. 312 — Die gelöste Heiterkeit, die einen beim Habhaftwerden eines neuen Schatzes erfüllt, sollte man (wie ich meine) teilen. So etwa einmal im Quartal gönn ich mir von meinem Budget eine Postlieferung mit englischen Büchern. Beim letzten Mal habe ich endlich daran gedacht, die Overlook Press-Ausgabe von »Gormenghast« aus dem 1995-Jahr zu ordern. Ein günstiger Anlass für mich, ein bisschen über diese vorzüglichen Fantasy-Bücher zu plaudern. Immerhin darf man ein Gormenghast-Jubiläum feiern, denn vor 60 Jahren, 1946, erschien das erste Titus-Buch.

Damit Sie — geschätzte Molochronik-Leser — nicht verwirrt werden, will ich lieber jetzt noch klären, daß ich hier nicht unbedingt etwas zum Inhalt der Titus-Bücher erzählen werde. Im Folgenden gibt’s ehr so lautes ›Vor-mich-hin-Denken‹ zum »Gormenghast«-Werk, sowie einige weiterführende Kostproben und Links.

1174 Seiten hab ich also nun, ein gut in der Hand liegender, typographisch angenehm gesetzter Schwabbelumschlag-Schinken, der nicht nur die ersten drei Titus-Bücher des Malers, Illustrators, Dramatikers, Dichters und Autors Mervyn Peake (1911–1968) enthält, sondern eine ganze Reihe interessanter und erfreulicher Dreingaben:

  1. Ein Vorwort von Quentin Crisp von 1946;
  2. Ein Vorwort von Anthony Burgess (bekannt als Autor von »Uhrwerk Orange«) von 1988;
  3. Kompletten Text der drei abgeschlossenen Titus-Bücher: a. »Titus Groan« (1946); b. »Gormenghast« (1950); c. »Titus Alone« (1959);
  4. Eine Abteilung mit kritischen Würdigungen, zusammengestellt von G. Peter Winnington, der auch das Intro mit einer Übersicht zu allgemeinen Literaturkritik-Reaktionen des englischsprachigen Feuillitions lieferte;
  5. »Memories of Mervyn Peake« von Louise Collins (1986);
  6. »The Gutters of Gormenghast« von Hugh Brogan (1973);
  7. »Situating Gormenghast« von Ronald Binns (1979);
  8. »›The Passions in their Clay‹: Mervyn Peake's Titus Stories« von Joseph L. Sanders (1984);
  9. »Titus and the Thing in Gormenghast« von Christiano Rafanelli (1976);
  10. »Fuchsia and Steerpike: Mood and Form« von G. Peter Winnington (1977);
  11. »Gormenghast: Psychology of the Bildungsroman« von Bruce Hunt (1978);
  12. »Gormenghast: fairytale gone wrong« von Margaret Ochocki (1982);
  13. »The Cry of a Fighting Cock: Notes on Steerpike and Ritual in Gormenghast« von Ann Yeoman (1991);
  14. »Beowulf to Kafka: Mervyn Peake's Titus Alone« von Colin Greenland (1981);
  15. »A Critical Conclusion: The End of Titus Alone« von Laurence Bristow-Smith (1981);
  16. »A Barrier of Foolery? The Depiction of Women in Titus Alone« von Tanya Gardiner-Scott (1988);
  17. Die wenigen Seiten an Notizen und Fragmenten zum vierten Buch »Titus Awakes«;
  18. Sowie 31 s/w-Illustrationen (24 zu den Romanen) von Mervyn Peake.


I.—Wurzeln der ›anderen‹ Fantasy: düster und befremdend

Von Peakes Werk bin ich schon seit vielen Jahren begeistert.

Die Gormenghast-Bücher gehören zu den großen Monolithen der Literatur, und sind vielleicht neben den »Der Herr der Ringe«- (erschienen 1954/55) und anderen Mittelerde-Werken von J.R.R. Tolkien (sowie den pulpigeren Burschen wie R. E. Howard, Firtz Leiber und Poul Anderson) DIE Fundamente der modernen ›Fantasy‹-Phantastik; d.h., wenn man beachtet, daß im deutschsprachigen Raum Peake immer noch ein ›Geheimtip‹ (was immer das bedeuten mag) ist, und der große Einfluss seiner Bücher sich bei uns eben eher auf verschlungenen Wegen zeigt.

Ach je! ›Fantasy‹, dieses Genre-Etikett das so viel Verwirrung stiftet. Im Englischsprachigen wurden damit lange Zeit alle im weiteren Sinne ›phantastischen Literaturen‹ bezeichnet. Unter anderem im Zuge des überwältigenden Erfolges der Mittelerde-›Kult‹-Bücher (also ab den späten Sechzigern, vor allem durch die Erfolge auf dem US-Markt), wurde dann ›Fantasy‹ mehr und mehr reduziert zu einem Wegweiser, der vor allem auf jene Spielarten der Phantastik zeigt, die Tolkien-ähnlich anmuten. Ich mache Tolkien keinen Vorwurf (denn nerven tun mich seine Nachahmer und übereifrigen Akolyten), aber ich beklage durchaus das Durcheinander und die Engstirnigkeit, die seitdem Unterhaltung über ›Fantasy‹ ab und zu eindunkeln.

Für mich bedeutet ›Fantasy‹ erstmal schlicht ›Phantastik‹, beginnend etwa mit dem Gilgamensch-Epos und den Werken von Homer, Rabelais, J. Swift, L. Carroll, Tieck, E.T.A. Hoffmann, Potocki, … Goethes »Faust 1 & 2«? Phantastik! Fantasy! (Was sonst?). — Ich kann mich aber auch darauf einstellen, daß andere unter ›Fantasy‹ vornehmlich die Tradition a la Tolkien, C.S. Lewis und ihrer Vorläufer und Nachfolger verstehen: also ›irgendwie‹ mittelalterlich (oder archaisch) anmutende Welten voller Kuttentypen, Schwerter, Magier, Artefakte und Monster, und ja bitte als Quest oder Aventure servieren, und ‘ne Karte wär sehr fein. Danke, ganz lieb.

Dabei ist es nicht so, dass Peake und Tolkien völlig unterschiedliche Werke vorgelegt haben. Beide haben ihre jeweils grandiose und eigenwillige Zweitweltschöpferei geleistet. Tolkien mit der Linguistik, Peake mit der Malerei als zugrundeliegender Kraftquellen- und Anker-Disziplin. Beide Autoren sind durch und durch anschauliche Vertreter des ›typisch englischen‹, geduldigen, detailbesessenen und in kreativer Abschweiferei schwelgenden Bosselns. Die Biographien der zwei wurden jeweils durch die Kolonialgeschichte Englands (Peake wurde in China, Tolkien in Süd-Afrika geboren) und die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Es hat wie ich finde wenig taug, wenn man Peake und Tolkien gegeneinander ins Rennen schickt und gegeneinander ausspielt. (Das ist etwa so sinnvoll, wie entscheiden zu wollen, ob die Erfindung des Rads oder des Feuers ›besser‹ ist.) Aber weil Tolkiens Einfluss nun mal unbestreitbar kräftig und die Aufmerksamkeit für Peake bei uns eben eher schmächtig ist, sei mir dieses Nebeneinanderstellen dieser beiden Großphantasten verziehen.

Es gibt eben zwischen HDR und den Titus-Büchern auffällige Unterschiede. Man kann zwar über die großen Werke beider Autoren sagen, dass sie kraftvolle Sprachkunstwerke sind, die hätten jedoch kaum gegensätzlicher geartet ausfallen können. Der nicht gerade konventionell strukturierte »Der Herr der Ringe« (= HDR) nimmt sich neben den Titus-Büchern aus, wie ein gradliniger Spaziergang (trotz aller z.T. langen und/oder indirekten Schilderungen, Orts/Zeit-Wechsel). Wer die Unregelmäßigkeiten von Zeitraffungen und -Sprüngen bei Tolkien schon auf bezaubernde Art verwirrend fand, hat gute Aussichten, sich in Gormenghast vollends mit Wonne zu verlaufen. HDR ist ein verhältnismäßig ernstes- und überraschend jux-loses Werk; Tolkien hat seinen wunderbaren lausbübisch-anarchistischen Humor (leider) vornehmlich in kleineren Werken ausgelebt (z.B. in »Bauer Giles von Ham« oder eben auch in »Der kleine Hobbitt«), aber obwohl sich auch im Helden-Epos-Panorama von HDR hie und da kleine Bockssprünge des ungebändigten Witzes finden lassen, überbieten Peakes Titus-Bücher das Tolkien-Werk spielend, bieten sie ja praktisch auf jeder Seite viele komisch-alberene und/oder komisch-seltsame Gedankenhüpfer.

Am meisten scheiden sich die Geister wohl wegen der Art von Zugangs- und Verweilhaltung, das diese beiden archetypischen Fantasy-Geschmacksrichtungen von der Leserschaft fordern bzw. bieten. Obwohl die Mittelerde-Welt in unzählige Richtungen offen ist, kann man sich in dieser Zweitschöpfung fast schon zu leicht behaglich einrichten. Tolkien betrachtete, von seinem Glauben geprägt, ›Trost zu spenden‹ als eine Hauptaufgabe seines Werkes, und so löblich diese Ambition an sich sein mag, verleitet sie Autoren eben dazu, die Leser immer wieder an der Hand zu nehmen und zu beruhigen. Das liegt nicht jedem. — Der ästhetische Imperativ für Peake war dagegen schlicht, seinen Gedankengrillen und Phantastereien größtmögliche Freiheit einzuräumen. Die Welt von Gormenghast eignet sich zwar durchaus für Leser, darin eigene Zweitweltschöpfungsgedanken zu weben, aber diese Welt bleibt trotzdem letztlich immer fremdartig, undurchschaubar, und tröstlich nur für trittsichere Wanderer auf dem ästhetischen Lebensweg der Melancholia, der angenehm-nachdenklichen Traurigkeit.

Es ist kein Wunder, dass gemäß dieser Ambitionen sich im Zentrum von HDR ein kleiner Sieg, die Heilung einer großmagischen Welt-Wunde befindet; es wird erzählt, wie den allgewaltigen entropischen Chaos- und Auflösungs-Mächten des Universums (aller Universen), dank einer glücksbringenden Katastrophe (Eukatatstropie) getrotzt werden kann; — im Mittelpunkt von Peakes Romanen aber schwelt beständig das Feuer der Rebellion, der Auf- und Ablehnung (vor allem personifiziert durch den manipulativen Steerpike und durch Titus Groan, 77. Herrscher des Steinreiches selbst) gegen die verstaubte und vermoderte Zivilisation der gigantischen Gebäude- und Riten-Welt von Gormenghast, gegen die umständlichen und rein zeremoniellen Rituale und ganz allgemein: gegen Engstirnig- und Phantasielosigkeit.


II.—Ein Blick ins Foyer der drei Titus-Bücher

Hier die jeweils eröffnenden ersten Absätze als Kostprobe. Immerhin sind die Bücher auf Deutsch nicht ganz billig (ich sehne mich schon lange nach einer günstigeren Taschenbuchausgabe!). Aber die in der Hobbit Presse bei Klett Cotta 1982/83 erschienene Übersetzung von Annette Charpentier lohnt sich auch für alle, die sich nicht getrauen, die englischen Sprachwogen von Peake zu durchpaddeln. Ein respektabler Kraftakt. — Na? Haben Sie genug Nerven, um folgenden Stil über 1000 Seiten genießen zu können?

(Ein Phantastik-Freund macht mich aufmerksam darauf, Euch noch auszudeuten, daß die Titus-Bücher keine Trio sind. Peake hatte geplant, eine ganze Reihe »Titus«-Romane zu schreiben, doch leider hat’s ihn schon bei der Arbeit am dritten Buch dahingerafft, weshalb »Titus Alone« auch erst mit der Revidierung durch Langdon Jones 1970 in seiner heutigen, ›endgültigen‹ Form erscheinen konnte. Und die ist nicht vollkommen, sondern eben Fragment. Die Bezeichnung »Gormenghast«-Trio ist also wieder mal eine handliche Vereinfachung. Keineswegs sollte im Fortlauf des angedachten Titus-Zyklus das Schloss Gormenghast im Mittelpunkt stehen, sondern eben die Lebensreise des letzten Lord Groan, und die begibt sich in »Titus Alone« ja schon in die Welt jenseits der Gormenghast’schen Gemäuer.

—Danke Gero, für den Hinweis!)

»Der junge Titus« (dt. 1982; 533 Seiten, 69 Kapitel mit Namen) »Titus Groan« (engl. 1946; ca. 396 Seiten)
DIE HALLE DER EDLEN SCHNITZWERKE: — Gormenghast – oder genauer: der größte Teil des alten Mauerwerks – hätte, für sich gesehen, eine bestimmte, eindrucksvolle Bauweise repräsentiert, wäre es nur möglich gewesen, jene umliegenden schäbigen Behausungen zu ignorieren, die sich wie eine krankhafte Wucherung um die Außenmauern legten. Sie breiteten sich über den Hang aus, eine jede halb über dem Nachbargebäude aufragend, bis die oberen Hüten aufgehalten durch die Befestigung der Burg, wie Napfschnecken am Felsen klebten. Aufgrund eines alten Gesetzes war diesen armlesligen Behausungen die fröstelnde Nähe der über ihnen drohenden Festung gewährt. Zu allen Jahreszeiten fielen über die unregelmäßigen Dächer die Schatten der von der Zeit angenagten Zinnen, der zerfallenen und der hochaufragenden Türmchen und, am gewaltigsten, der Schatten des Pulverturms. Dieser Turm, ungleichmäßig mit Efeu bewachsen, erhob sich wie ein verstümmelter Finger aus einer Faust von knöchelartigem Mauerwerk und wies blaphemisch gen Himmel. Des Nachts verwandelten ihn die Eulen in einen hallenden Schlund; tagsüber ragte er stumm auf und warf seinen langen Schatten.
THE HALL OF THE BRIGHT CARVINGS: — Gormenghast, that is, the main massing of the original stone, taken by itself would have displayed a certain ponderous architectural quality were it possible to have ignored the circumfusion of those mean dwellings that swarmed like an epidemic around the outer walls. They sprawled over the sloping earth, each one half way over its neighbour until, held back by the castle ramparts, the innermost of these hovels laid hold on the great walls, clamping themselves thereto like limpets to a rock. These dwellings, by ancient law, were granted this chill intimacy with the stronghold that loomed above them. Over their irregular roofs would fall throughout the seasons, the shadows of time-eaten buttressses, of broken and lofty turrets, and, most enormous of all, the shadow of the Tower of Flints. This tower, patched unevenly with black ivy, arose like a mutilated finger from among the fists of knuckled masonry and pointed blasphemously at heaven. At night the owls made of it an echoing throat; by day it stood voiceless and cast its long shadow.
»Im Schloß« (dt. 1983; 550 Seiten, 80 nummierte Kapitel) »Gormenghast« (engl. 1950; ca. 410 Seiten)
EINS: — Titus ist sieben. Sein Gefängnis: Gormenghast. Gesäugt von Schatten; aufgezogen in einem Gewebe von Riten: für seine Ohren – Echos, für die Augen – ein Labyrinth aus Stein: und dennoch in seinem Körper etwas anderes – etwas anderes als dieses schattenreiche Erbe. Denn zu allererst ist er ein Kind.
ONE: — Titus is seven. His confines: Gormenghast. Suckeld an shadows; weaned, as it were, on webs of ritual: for his ears, echoes, for his eyes, a labyrinth of stone: and yet within his body something other – other than this umbrageous legacy. For first and ever foremost his is child.
»Der letzte Lord Groan« (dt. 1983; 285 Seiten, 122 nummerierte Kapitel) »Titus Alone« (engl. 1959/1970; ca. 214 Seiten)
EINS: — Ob Norden, Süden, Osten oder Westen, wie er sich auch drehte, es dauerte nicht lange, bis die vertraute Landschaft verschwand. Verschwunden war die Umrißlinie seiner bergigen Heimat. Verschwunden die zerrissene Welt der Türme. Verschwunden die Flechten; verschwunden der schwarze Efeu. Verschwunden das Labyrinth, das seine Träume speiste. Verschwunden das Ritual, sein Mark und Fluch. Verscheunden die Kindheit.
ONE: — To north, south, east oder west, turning at will, it was not long before his landmarks fled him. Gone was the outline of his mountaininous home. Gone that torn world of towers. Gone the grey lichen; gone the blach ivy. Gone was the labyrinth that fed his dreams. Gone ritual, his marrow and his bane. Gone boyhood. Gone.


III.—Kleine Link-Sammlung zu Mervyn Peake

Ausgangspunkt aller Erkundungsklickerein sollte die englischsprachige, offizielle englische Website über Peake sein. Viel Material zum Leben und Werk, mit vielen Bildern von Peakes Illustrationen, z.B. zu »Alice im Wunderland« und »Die Schatzinsel«. Besonders empfehlen möchte ich diese Titelgestaltung einer Ausgabe der Grimm'schen Märchen, farblich fast eine Vorwegnahme von späterem Horrorcomics-Flair. — Die angegliederte Seite zu Gormenghast bietet einen Rundgang durch die Bücher.

Während ich diesen Beitrag zusammenflicke, läuft nebenher meine Doppel-DVD der 4-teiligen BBC-Produktion von Gormenghast; eine durchwegs stimmungsvolle und erstaunlich treue TV-Aufbereitung, in der sich solche Größen wie Sir Ian Richards, Sir Christopher Lee, Stephen Fry, Jonathan Rhys Meyers und Richard Griffiths die Stichwörter geben. — Ich halte es für eine äußerst zeihenswerte Schande, daß diese exzellente Fernsehangelegenheit noch nicht im deutschsprachigem TV lief, oder wenigstens als DVD eingedeutscht wird! {Edit 10. Dezember 2009: Siehe Kommentar. Jubel!}

Für am schönsten gestaltet halte ich die Gormenghast-Website von PBS. Hier gibt’s reichlich weiteres Material zum BBC-Vierteiler, zum Beispiel diese Inhaltszusammenfassung, wobei zu beachen ist, daß die Fernsehfassung nur die ersten beiden der drei Titus-Bücher umgesetzt hat. Auch werden dort RealPlayer/Quicktime-Trailer zur TV-Fassung angeboten (in der es etwas wischiwaschi heißt, Gormenghast wäre ein ›Fantasy-Klassiker in der Tradition von HDR und Dune‹.

Dann möchte ich der Übersichtlichkeit halber nur auf drei englische Texte verweisen: • Einmal Carl Darnells Portrait über Peake für das Scriptorium von The Modern Word. • Zum zweiten auf Michael Moorcocks längere (im guten Sinne) Remisinzenz »An Excellence of Peake« bei Fantasticmetropolis. • Und drittens ein kleiner Aufsatz von Mr. Pye für die Great Science Fiction & Fantasy Works-Website.

Und zuletzt einige Beispiele mit wohligen, hiesigen Meldungen von Lesereisen in Peake'sche Gefilde: • Fang ich an mit dem agitpop-Blog, wo man erstmal gehörig getollschockt eine Pause zwischen Buch 1 und 2 einzulegen gedenkt; • dann berichet Wysiwig, wie's ist Gormenghast in Prag zu lesen; • es freut mich, daß in dem HDR-Verfilmungs-Begleit-PDF der Stiftung Lesen Gormenghast als wichtiges Werk der Fantasy empfohlen wird; • und schließlich loben Barbara König und Ludwig Dickmann den ersten Teil für Buchkritik.at.


Spürbar angehaucht vom Weltgemäuer Gormenghast

Am deutlichsten sind mir in den letzten Jahren Peake- und Gormenghast-Einflüße auf Stil, Formensprache, Atmosphäre und Szenerie auf dem Feld der europäischen Fantasy- und Phantastik-Comics (oder auch Graphic Novels) aufgefallen. Die hier verlegten Links führen zu externen Seiten (viele davon englisch oder französisch), die irgendwie nichtkommerzigen Einblick in die jeweiligen Werke gewähren:

»Hier Selbst« von Jean Claude Forest (Text) und Jaques Tardi (Illustration), 1979; Edition Moderne 1989.

»Sambre« von Balac (Text) und Yslaire (Illustration).

  1. »Der Krieg der Augen«, Carlsen 1987;
  2. »Unruhige Herzen«, Carlsen 1992;
  3. »Die Farbe der Freiheit«, Carlsen1994;
  4. »Vielleicht auch sterben…«, Carlsen 1997.

»Das Narrenschiff« von Turf.

  1. »Irrwater«, Splitter 1996, Neuauflage bei Kult Editionen;
  2. »›Regenmonat 627‹«, Splitter 1997, Neuauflage bei Kult Editionen;
  3. »Turbulenzen«, Splitter 1997, Neuauflage bei Kult Editionen;
  4. »Ans Werk«, Kult Editionen 2002.

• Die Einzel-Alben von Frederic Bezian: • »Der Fluch des Adam Sarlech«, Carlsen 1991; • »Das verborgene Brautgemach«, Fest 1993; • »Das Testament unter dem Schnee«, Fest 1995.

»Horologiom« von Fabrice Lebeault:

  1. »Der Mann ohne Schlüssel«, Splitter 1995, Neuauflage bei Kult Editionen;
  2. »Die Stunde des Damokles«, Splitter 1996, Neuauflage bei Kult Editionen;
  3. »Nahedig«, Splitter 1998, Neuauflage bei Kult Editionen;
  4. »Die Stunde des Aufbauers«, Kult Editionen 2003.

»Monsieur Noir« von Dufaux (Szenario) und Griffo (Illustration), zwei Bände bei Splitter 1996/1998. Leider hab ich hierzu keinen Link gefunden, den ich unbeschämt anbieten könnte.

»L'etat morbide« von Hulet:

  1. »Der Turm«, Fest 1992;
  2. »Der verschlingende Zugang«, Fest 1994;
  3. »Waterloo Exit«, Fest 1993.

Buchmesse 2006 (8): Drei kuriose Knochen im Tal der Drachen, oder: »Bone«, das Fantasy-Comic-Epos von Jeff Smith.

<img src="molochronik.antville.org" align="right"style="margin-left:10px;">Eintrag No. 305 — Das ursprünglich als s/w-Comic erschienene ›funny fantasy epic comic‹ »Bone« von Jeff Smith ist eine der diesjährigen Ausstellungen im Comic-Bereich der Halle 3.0 gewidmet.

Da bin ich rundum enthusiasmiert, denn seit 1998/99 ich bin ein ›Fan‹ von »Bone«. Als jemand, der sonst eher grimmig-düstere Fantasy bevorzugt, war »Bone« für mich wie ein Licht aus einer anderen Welt. Immerhin ist »Bone« ein Garn für alle Altersgruppen von ca. 10 Jahren aufwärts. Solche Unternehmen fallen bei mir Monster- und Krassheiten-Wertschätzer schnell durch die Entsorgungsklappe für allzu sehr das Leserhändchen tätschelnde Butzi-Bussi-Belästigungen. — Nicht so »Bone«. Ich weiß sehr zu schätzen, wie Jeff Smith es geschickt versteht, zärtlich das Herz seiner Leser zu berühren. Ich geb zu, daß bei mir Zeichner (wenn sie eben so gut sind wie eben z.B. Smith) leichter meine entsprechenden Ressentiments überwinden, die ich erstmal gegenüber träumerischer und naiver Romantik nun mal hab (mich schüttelst heut noch ›mit Grausen‹ wegen des »Narnia«-Lichtspiel). Jeff Smith führt mir vor, daß alle Pauschalablehnung bestimmter ›Geschmacksrichtungen‹ (wie ›Kitsch‹, ›Trash‹ ect pp ff) durch Ausnahme-Gemmen in Frage gestellt werden. Für mich sind halt ›Trost‹, ›Sentimentalität‹ und ›Naivität‹ arge Reize bei denen es mir schnell mal zu heftig wird, so wie für jene, die sich am entgegengesetzten Ästhetik-Pol orientieren, ›Ekel‹, ›Angst‹ und ›Explikationshärten‹ eben HARDCORE sind. Wirklich Exzellentes, auf das man sich als ästhetisch allgemein Neugieriger einlassen kann, gibt es überall zu finden.

<img src="molochronik.antville.org" align="right"style="margin-left:10px;">— Rundum baff war ich, als ich vor einigen Wochen mitbekommen habe, daß Tokyopop diesen hinreissenden Comicroman in neuer Übersetzung, sowohl in ursprünglichem Schwarz-Weiß-, als auch im neuen Digital-Kolorierungs-Format raus bringt; zu Preisen, die ich mehr als fair nennen kann (Info zur gebunden & zur Taschenbuch-Ausgabe). Gestern am Stand des Verlages, hab ich den netten Damen und dem Herren von Tokyopop ein Beigeisterungstirilieren und -gefuchtel angedeihen lassen. Wann gabs denn auch zuletzt so schöne farbige, gebundene Sammelbände von Serien, bei denen die deutschen Ausgaben dann um so vieles günstiger waren, als vergleichbare Original-Ausgaben?

Zwar finde ich als über-kritischer Fantasy-Freund auch bei »Bone« ein paar Scharten und Splitter (wie einige eher unoriginell eingesetzte Monomythos-Rezepte und knarzende ›High Fantasy‹-Iconographien {z.B. geheimnisvolle ritterliche Kaputzentypen}, vor allem in den beiden ›bellezistischen‹ Schwert & Klaue-Finalbänden); — aber: dennoch überwiegt bei mir mit Leichtigkeit der Eindruck, daß die 1434 Seiten (und circa 6460 Kästchen) die Aufmerksamkeit und Schmöker-Hingabe wert sind, die das neunbändige Queste- und Schlachten-Epos auf sich zu locken vermag. Ich schreib ›Hingabe‹, weil die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, daß die Geschichte und die schönen Zeichnungen, wenn sie dich erstmal am Haken haben, vollends in ihren Bann ziehen, und du dir z.B. heißen Tee einschenkst, aber als ersten Schluck kalten Tee trinkst.

Das Bemerkenswerteste an »Bone« ist für mich die Art und Weise, wie hier ›J. R. R. Tolkien‹- oder ›Alexander Llyod‹-artige, klassische ›Heldenromanzen‹-Fantasy mit zeitlosem ›kleine lustige Männeken-Slapstick‹-Humor vermengt werden (»Ich liebe es, wenn kleine Wesen sich zanken«, sagte in etwa ja schon Napoleon, allerings nicht in unserer Welt).

Der Comicroman breitet zudem eine vielstimmige und abwechslungsreiche (und doch irgendwie am Ende hübsch übersichtliche) Fantasy-Welt aus, in der es bedrohliche Rattenwesen und fruchteinflößende Riesenpumas gibt (coole Monster halt); in der alte Omas es an Agilität und Kampfeskraft mit den orientalischen Altersgenossen wie Meister Li (z.B. in den »Chinese Ghost Story«-Filmen) aufnehmen kann; in der hinreißend putzige Waldtierchen (vom Käfer über Oppossum-Nachwuchs bis zu Schildkröten) heldenhaft gegen viel größere Böse kämpfen; und in der untote Unglücks-Propheten mit mysteriösen Stimmen in Dunklem babbeln; es gibt Flüchtlingslager- und Indiana Jones-Passagen; und naiv-brilliante Liebeslyrik, und und und …

… und es gibt es die Gebrüder Bone, drei an Walt Kellys sanfte Formensprache erinnernde ›Cartoon‹-Figuren, in einer ansonsten überwiegend eher ›realistisch‹ vorgestellten Welt. Das Durcheinander an Dialog- und Situations-Komik, das der grantige und machtgeile Phoney (sözusagen ohngeföhr Groucho), der faule und subversive Smiley (Chico) und der phantasievolle und mitfühlende Fone (ein Harpo der aber reden kann) bieten, ist schlichtweg köstlichste Humoristik. Eigentlich sind die drei unglücklicherweise in eine große Fantasy-Geschichte gestolpert, und begleiten als Nebenfiguren die eigentlichen Epik-Protagonisten. Und dieses Erzählen aus der Sicht von buchstäblich planlos Dahergelaufenen, verleiht dem sich langsam entfaltenden Großdrama einen Kick, mit dem selbst für mich als Skeptiker gegenüber Schlachten- und Adels-Fantasy die große Abenteuer-Queste stabil trägt und beste Laune bereitet.

Zuckerl (1): Der Meister bloggt selber Jeff Smith berichtet selber grad hier aus Frankfurt von der Buchmesse. Einfach mal dort sich exemplarisch vorführen lassen, wie man als Autor und Künstler das Bloggen als Werkstatt- und Alltagsmeldungs-Medium/Nexus nutzen kann.

Zuckerl (2): Zahlenfetischismus Bei Tokyopop harrte man meiner Zählergebnisse! — ›Circa‹, weil ich gestern abend nur einmal die neun Bände durchgezählt hab, als Nach-Buchmessentrubel-Entspannung. — Für Kapitelübersicht-haben-Woller in Kleinschrift noch die Aufdröselung der Zahlen (sorry, daß ich die englischen Titel anführe, aber ich hab nun mal keine deutsche Ausgabe im Haus):

••• Teil eins: VENERAL EQUINOX • Band 1: »Out Of Boneville«; 142 Seiten, ca. 773 Kästchen. • Band 2: »The Great Cow Race«; 143 S., ca. 630 Kästchen. • Band 3: »Eyes Of The Storm«; 180 S., ca. 788 Kästchen. ••• Teil zwei: SOLSTICE • Band 4: »The Dragonslayer«; 182 S., ca. 899 Kästchen. • Band 5: »Rock Jaw«; 124 S., ca. 544 Kästchen. • Band 6: »Old Man's Cave«; 126 S., ca. 565 Kästchen. ••• Teil drei: HARVEST • Band 7: »Ghost Circles«; 158 S., ca. 673 Kästchen. • Band 8: »Treasure Hunters«; 140 S., ca. 604 Kästchen. • Band 9: »Crown Of Horns«; 229 S., ca. 984 Kästchen.

Übersicht von Molos Buch- & Comicbesprechungen

Letzte Aktualisierung: 25. Juli 2009 — Neue Aufteilung in ›Sachbuch‹, ›Bibliothek von Babel‹, ›Comics & Graphic Novels‹ und ›Belletristik‹.

Eintrag 268 — Mal zusammenrechen, was ich an Meinungen über Bücher abgelassen habe.

Sortierung innerhalb der Abteilungen alphabethisch gemäß des Nachnamens.

Wird regelmäßig um die neuesten Rezensionen aktualisiert.

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